von Gerhard Wagner
Bücher liest man in Deutschland nur, falls sie Zustände beschreiben; nicht, falls sie welche bekämpfen. Lyrik, Historie, Psychologie liest man; kaum: Politik, Pamphlete, Forderndes.« Der das aus eigener Erfahrung schrieb, Kurt Hiller, hatte laut Gedenktafel als »expressionistischer Schriftsteller« von 1921 bis 1934 in Berlin-Friedenau sein Domizil, in der Hähnelstraße 9. Eine Einheit der SS überfiel 1933 die Wohnung des Juden und Homosexuellen, raubte Skripte und wertvolle Briefe – was die Tafel nicht vermerkt. Der heutige Sitz von Rechtsanwaltsbüros hat über dem Eingang antikisierende Schmuckelemente, grazile Frauenfiguren mit Girlanden, die ein freundliches »Salve« entbieten.
Das tut nun, ganz schmucklos, auch eine Ausstellung in der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek, gestaltet von der 1998 gegründeten Kurt-Hiller-Gesellschaft. Die Sektoren dieser ersten umfassenden, aber stets übersichtlichen Hiller-Exposition – wie »Literarischer Expressionismus«, »Die Weltbühne«, »Exil in Prag und London«, »Heimkehr 1955 nach Hamburg« und »Die Hiller-Forschung« – lassen vieles (wieder)entdecken. Vitrinen und Stellwände enthalten Anthologien, Aufsatzsammlungen, Gründungsmanifeste und Jahrbücher, Programmzettel und Zeitungsausschnitte, Manu- und Typoskripte, Briefe; ein Bildschirm präsentiert Fernsehproduktionen mit und über Hiller, per Kopfhörer ist seine Stimme in Rundfunkgesprächen zu hören. Im Begleitband führt Harald Lützenkirchen »prominente Briefpartner« Hillers auf, deren Schreiben teilweise hier zu sehen sind – von Theodor W. Adorno bis Arnold Zweig. Dazu kommen sorgfältig aus dem umfangreichen, erst seit 2003 zugänglichen Nachlaß ausgewählte Glanzstücke, unter anderem Reisetagebücher Hillers, eine Aktzeichnung des Expressionisten Ludwig Meidner aus dem Jahre 1912, der erste Band des Jahrbuchs »Das Ziel. Aufrufe zu tätigem Geist« von 1916 (mit der endgültigen Version von Walter Benjamins Aufsatz »Das Leben der Studenten«) und eine Ausgabe von Adolf Hilers »Mein Kampf« (48. Auflage 1939) mit bissig-ironischen Bleistiftkommentaren Hillers.
Kurt Hiller, geboren 1885 in Berlin, juristisch und philosophisch gebildet, war rechtsphilosophischer und politischer Publizist, als solcher Vertreter eines radikalen intellektuellen Außenseitertums. So bewährte er sich als gruppenbildende Kraft in der Zeit der neuen »Ausdrucksart« des literarischen Expressionismus, war zeitweilig rätedemokratisch, später eher geistesaristokratisch-reformistisch engagiert, plädierte für eine »autoritative Bestenherrschaft«. Er arbeitete zusammen mit Heinrich Mann, Robert Musil, Ludwig Rubiner, Franz Werfel und Georg Heym, war Autor der Weltbühne und des Sturm, Mitbegründer der Aktion. Die bisher umfangreichste Gesamtbibliographie, die in dem von Rolf von Bockel und Harald Lützenkirchen herausgegebenen Sammelwerk »Kurt Hiller. Erinnerungen und Materialien« (Hamburg 1992) erschien, verzeichnet rund 1000 Arbeiten aus der Feder dieses »Schreiberichs« mit hohem »Form-Ethos«, dieses »Streitsuchers aus Leidenschaft«, der mit Worten stets auch »Ereignisse machen« wollte. Auf ihn trifft also zu, was die in Hillers Exilort Prag erscheinenden Neuen Deutschen Blätter 1933 als Losung ausgaben: »Wer schreibt, handelt.«
Unter den vielen Publikationen finden sich so unterschiedliche wie die – jetzt in einer kommentierten Neuausgabe vorliegende – strafrechtsreformerische Studie unter anderem zu Abtreibung, Selbstmord und Homosexualität »Das Recht über sich selbst« (1908) und die erste expressionistische Lyrikanthologie, »Der Kondor« (1912), eine »rigorose Sammlung radikaler Strophen« von Max Brod, Else Lasker-Schüler, Paul Zech und anderen. Lang ist die Reihe der politischen Streitschriften: »Der Gemüts-Staat« (1911), »Die Weisheit der Langenweile« (1913), die »Philosophie des Ziels« (1916), die Projektskizze »Logokratie oder Ein Weltbund des Geistes« (1921), das Plädoyer für die »Verwirklichung des Geistes im Staat« (1925), die Appelle für »Konzentration links!« (1927) und »Selbstkritik links!« (1932). Auch die »Ursachen des nationalsozialistischen Erfolgs« (1932) und der »Rückschritte der Sowjetunion« (1936) sind Gegenstände Hillers; schließlich folgen 1969 und 1973 zwei autobiographische Bände über sein »Leben gegen die Zeit«.
Für all diese Arbeiten gilt, was Hiller in einem Weltbühnen-Artikel von 1919 mit dem Titel »Geist werde Herr« proklamierte. Denn hier erkor er die politisch argumentierende Prosa schreibenden und sich der offenen Formen literarischer Kommunikation – vom Zeitungsessay bis zum Flugblatttext – bedienenden oppositionellen Literaten zu den wahren Helden des alltäglichen Geisteslebens, zu geistigen Führern, Interpreten und Dolmetschern. Ihnen und nicht den konservativ-ästhetizistischen »Dichtern«, aber auch nicht den Nachfahren des Naturalismus gehört nach Hiller die Zukunft: »Redner, Lehrer, Aufklärer, Aufwiegler, Bundesgründer, Gesetzgeber, Priester, Religionsstifter werden wir sein, wir werden Propheten sein«. Hier wird versucht, die expressionistische Revolte aus dem abstrakten Weltverbesserertum herauszulösen und in den »Aktivismus« zu überführen. Schon zuvor, in der »Philosophie des Ziels«, wird darüber hinaus der geistige Mensch als »Funktion des Volkes« begriffen: »Geist, so un-atomistisch wie nur möglich, zieht aus der Gesamtheit der Gemeinschaft – wie der Magnet aus einem Haufen Metallsplitter die Eisenspäne – jene Elemente an sich, die ›Volk‹ sind; verbindet sie seiner Kraft und, durch seine Kraft, miteinander.«
Ohne die Dynamik der politisch-sozialen Auseinandersetzungen in Deutschland seit 1918, das Außenseiterum zahlreicher linker und liberaler Autoren und ihre Vorstellung einer gewaltlosen Herrschaft des »Geistwillens«, die Entstehung einer modernen technisch-medialen Kultur und Propaganda, die massenhafte Orientierungsunsicherheit wären diese Worte, die natürlich auch eine Selbstdarstellung sind, nicht geschrieben worden. Sie lassen in das Innere des Lebenswerkes und in das Äußere der Umstände seiner Hervorbringung wie in ein Kraftwerk blicken.
Man gewahrt den politisch-literarischen Heizkessel, in dem vor allem »ratioaktive« Substanz brodelt, gewonnen unter anderem aus der Staatsutopie Platons, der Erkenntnisphilosophie Immanuel Kants, der Kulturkritik Friedrich Nietzsches, der Sprachkritik Karl Kraus’, der Psychoanalyse Sigmund Freuds; aus Pazifismus und Anarchismus (hier: dem Streben nach Herrschaftslosigkeit). Er ist erhitzt von der intellektuellen Widerspruchsbewegung der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg mit Wortführern wie Ludwig Rubiner, Alfred Kerr, Walter Mehring und Karl Kraus. Sein Manometer steht zeitlebens auf »Explosion«.
Man wird des kräftigen Transmissionsriemens der »Herrschaft der Geistigen« inne, der die vielen sozialen, kollektiven Energien des Außenseitertums an die tausend Kettchen und Rädchen der oppositionellen Sammlung im Deutschland zwischen den beiden Weltkriegen abgibt. Darunter an den 1918 von Hiller gegründeten »Politischen Rat geistiger Arbeiter«, Anlaufstelle für Magnus Hirschfeld, Bruno Taut, Gustav von Wangenheim, Heinrich Mann, Robert Musil und andere, sowie die 1926 geschaffene »Gruppe Revolutionärer Pazifisten«, zu der Autoren wie Klaus Mann, Walter Mehring, Ernst Toller, Kurt Tucholsky und Alfons Goldschmidt gehörten; auch noch an die Zusammenschlüsse während des erst tschechischen, dann englischen Exils Hillers, wie der 1939 geschaffenen »Gruppe Unabhängiger Deutscher Autoren«.
Man sieht die rotierenden Zahnräder des Widerstands gegen die Vergötzung »ungeistiger«, also auch politisch unmündiger »Mehrheiten« und einer »bloßen Volksherrschaft«; die des Widerstands gegen den mit solchen Topoi dogmatisch pokernden Faschismus. Des Widerstands aber auch eines »logokratischen Sozialisten«, der nach eigenem Zeugnis nie »liberal oder ZK-getreu schmockte«, gegen die bürgerlich-parlamentarischen Ränkespiele wie gegen die Politik der »Roten Ritter« auf kommunistischer Seite. Und nicht zuletzt gegen die »überbildete Flachheit« und den »untätigen Tiefsinn« im Zusammenspiel von reaktionären Herrschaftsideen, praktischer Machtpolitik, diffusen Massenphantasien und abgehobenem Feuilletonismus.
Schließlich hört man aber doch trotz des Schmieröls aus politischer Leidenschaft, gedanklicher Originalität und Präzision sowie nuancenreicher Sprache mit vielen eigenwilligen Wortneubildungen und dynamischer Metaphorik den Sand im Getriebe. Zu diesem zählen nicht nur die vielen »intellektischen Ekstasen«: die anfängliche Bewunderung für Benito Mussolini, den »Renaissancekerl, intellektuell« und der abstrakt-ethische Rigorismus des sich zum Gesetzgeber aufschwingenden »Geistwillens« zum Beispiel gegenüber dem »Taugenichts« Thomas Mann. Sondern vor allem: das Unverständnis gegenüber der geschichtlichen Erfahrung aus Industriekapitalismus und Imperialismus, dem Zusammenhang von ökonomischer Herrschaft, sozialen Verwerfungen und individueller Entfremdung; das Unvermögen, aus der Marxschen – offenbar nur oberflächlich rezipierten – Analyse der »inneren Gesetzmäßigkeit der Wirtschaftsseite des sozialen Seins« (an Wilhelm Sternfeld, 1948) Konsequenzen für den um 1930 proklamierten Kampf »gegen Kapital, Klerus und Krieg« zu ziehen. Hinzu kommen die Fehlkalkulationen hinsichtlich der realen politischen Machtverhältnisse und der Wirkung moderner Massenpropaganda; die utopisch-voluntaristische Überschätzung der selbsthelferischen Rolle des Individuums und seines Bewußtseins im geistigen »deutschen Herrenhaus«, des Geistig-Schöpferischen bei der Herstellung einer »roten Einheit«. Man vernimmt die geistige »Donquichotterie« eines intellektuellen »Couloirpolitikers« vor dem Hintergrund alltagsgewaltiger »pathologischer Stauungen« in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren, wie Walter Benjamin in seiner mit »Der Irrtum des Aktivismus« betitelten Rezension für die Frankfurter Zeitung von Hillers Buch »Der Sprung ins Helle« (1932) mit Reden, Dialogen, Essays, Thesen und Briefen schrieb. Benjamin plante schon 1920 einen polemischen Text mit dem vielsagenden Titel »Es gibt keine geistigen Arbeiter«, der nicht erhalten ist. Zuvor, 1919, hatte der »dadaistische revolutionäre Zentralrat« in seinem Manifest »Was ist der Dadaismus und was will er in Deutschland?« zum Kampf gegen die »versteckte Bürgerlichkeit« der »geistigen Arbeiter« um Hiller aufgerufen.
Und wie erging es einer solchen krisengeschüttelten und -bewährten politisch-literarischen Kraftstation, die mit so manchem »Hand- und Fuß-Buch« nach eigenem Zeugnis ihre »große Zeit« in der Weimarer Republik hatte, ihren Standort »links über den Parteien«, nun im westlichen Nachkriegsdeutschland, im bald selbstgefälligen »Wirtschaftswunderland«, in die sie 1955 zurückkehrte? Bereits in der Rede »Geistige Grundlagen eines schöpferischen Deutschland der Zukunft« von 1947 gab sie heißen Dampf ab: So erkannte sie rigoros dem Volk keine Souveränität zu, wenn in ihm »die Mehrheit politisch zur Dummheit neigt«. Auch zwischen Flensburg und Bodensee also erneut »zum Denken verdammt« und zum Außenseitertum, zum mühseligen Sammeln und Organisieren, versuchte diese Kraftstation, sich zu modernisieren – ihren Prinzipien getreu zum Beispiel mittels der Gründung eines »Neusozialistischen Bundes«. Dieser stellte sich mehrere große Aufgaben: den Kampf für die Entmilitarisierung Deutschlands, die Abschaffung der Bundeswehr und die Ablehnung der Atombewaffnung, für die Vereinigung der beiden deutschen Staaten – bei Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze. Der »Bund« sollte deshalb radikale Kritik an den zur Verkrustung neigenden bürgerlichen Parteien üben, ein Forum für die kleinen sozialistischen Gruppierungen schaffen und so der Gefahr der »Verinselung« von politisch links stehenden Intellektuellen begegnen. Das war 1956.
Natürlich engagierte sich der politisch-publizistische Kraftwerker Hiller, der unermüdliche »Denkwebel«, bald erneut in der Printmedienlandschaft, zum Beispiel für das Magazin konkret und das studentischer Initiative in Hamburg entsprungene philosophisch-literarische, immer kritisch-demokratisch engagierte Jahrbuch Lynx, das von 1960 bis 1966 in 32 Ausgaben erschien. Wolfgang Beutin, der Herausgeber, schreibt in seinen »Hilleriana« rückschauend zur Bedeutung von Hillers Mitwirken: »Seine Person stellte das Verbindungsglied dar zwischen uns und einigen für uns relevanten Traditionen: der antifaschistischen und der des Kampfs gegen die Monopolherrschaft, Remilitarisierung und Renazifizierung (…). Mit Hiller als ›Schutzgottheit‹ nahmen wir den Ankampf auf gegen die uns unerträglichen Zustände in der Bundesrepublik der Adenauer- und ersten Nach-Adenauer-Ära, die wir nicht als die ›Wirtschaftswunder‹-Epoche verehrten, sondern als einen immerhin veritablen Alptraum empfanden (…).«
So wurde, war und blieb der 1972 in Hamburg verstorbene Kurt Hiller einer der wichtigsten deutschen Statthalter radikal-demokratischen Protests. Man mag gegen ihn und seinen unter anderem dem revolutionären Rätegedanken letztlich abholden »revolutionären Aristokratismus«, seine zahllosen Versuche systemkritischer Politisierung der Intelligenz mit elitären Zügen, seinen für vor allem geistig »Willentliche« entwickelten politischen Voluntarismus, seine Disqualifizierung der Demokratie als »politischen Absolutismus des Durchschnittsmenschen« heutzutage vorbringen, was man will oder muß: Er gehörte mit seinem unbändigen »Leben gegen die Zeit«, mit seinem Eintreten für eine urbane demokratische Kultur und für eine pazifistische Neuordnung der Welt stets auch zu jenen, für die, wie es im Manifest des »Neusozialistischen Bundes« aus dem eruptionsreichen Jahr 1956 heißt, »Sozialismus kein kompromittierendes und veraltetes Schlagwort ist, sondern die gute und lebendige Bezeichnung für ein unverwirklichtes politisches Ideal«. Als wichtige deutsche Quelle für die politisch-sozialen Richtungskämpfe des zwanzigsten Jahrhunderts regt er zudem zum kritischen und selbstkritischen Nachdenken in einer Zeit an, da eine massenhaft bequem gewordene »Vernunft« alltäglich Resignation oder Opportunismus nahelegt. So ist er auch einer, der helfen könnte, Realitätssinn zu wahren hinsichtlich der Chancen sowohl für die radikal-demokratische »Vergeistigung« der Politik als auch für die Politisierung der »Geister«.
Dieser Aufsatz erschien zuerst in der „jungen welt“ vom 7. August 2010 und wird hier mit freundlicher Genehmigung nachgedruckt. Die Ausstellung »Der Weltverbesserer Kurt Hiller« ist noch bis zum 26. September 2010 in der Staats- und Universitätsbibliothek »Carl von Ossietzky«, Von-Melle-Park 3 in Hamburg zu sehen.
Schlagwörter: Gerhard Wagner, Kurt Hiller