von Klaus Hammer
Die Berliner Malerin und Grafikerin Sandra Rienäcker (Jahrgang 1968), Absolventin der Kunsthochschule Berlin-Weißensee, einstige Meisterschülerin bei Prof. Wolfgang Peukert, malt gegenständliche Bilder, klar, prägnant, die einen eigentümlich berühren und verunsichern. Wir glauben die Dinge zu kennen, die die Künstlerin zu ihren Arbeiten veranlassen: Gesichter, die wir schon irgendwo, irgendwann mal gesehen haben, scheinbar vertraute Stadtlandschaften, alltägliche Gegenstände. Indem sie sich ihnen aber zuwendet, erscheinen sie in ihrer Sperrigkeit und Widerständigkeit zunehmend rätselhaft und – Tücke des Objekts – oft auch menschlich.
In der grauen, entfärbten und entformten Zone des scheinbar Selbstverständlichen, des scheinbar Vertrauten, in der Gewöhnung blind macht, öffnet Sandra Rienäcker die Augen und beobachtet Wirkungen und Reaktionen im zeitlichen Ablauf. Menschenleer sind die Straßen, Plätze und Stadtpanoramen – diese Ansichten imaginärer Architekturen: Kulissen, hinter denen ein Geheimnis verborgen scheint. Eine scheinbar zeitlos erstarrte Welt im luftleeren Raum. Dabei dienen ihr oft Fotos als Motivvorlage, die sie dann entsprechend verändert. Von der Überschärfe der Wirklichkeitsdarstellung führt ein direkter Weg zu einer befremdenden, bedrückenden, auch bedrohlichen Bildatmosphäre der Stille und Statik.
Bei äußerster Präzision des Gegenständlichen genügt eine Nuance, eine geringe Verschiebung des Blickwinkels, eine winzige Veränderung der Beleuchtung und man befindet sich an einem von Grund auf fremden Ort, in einer befremdlichen Gegend, in der andere Gesetze gelten als die sonst gewohnten. Die Kulisse einer wie ausgestorbenen, verlassenen Stadtlandschaft ruft beim Betrachter ein Gefühl der Vereinsamung und existenziellen Leere hervor. Mit der Leere ist die Angst verbunden, denn wer Leere sagt, schließt darin auch die Möglichkeit eines plötzlichen, unvorhergesehenen, vielleicht schrecklichen oder zumindest überraschenden Einbruchs mit ein. Man hat den Eindruck: In dieser toten, unbelebten Stadt, in diesen verlassenen Straßen muß gleich irgendetwas passieren. In dem Bild „Die Beute – Putbus“ (2010) kündigt die martialische Statue, eine überlebensgroße Figur in Uniform links im Vordergrund drohend ein Ereignis an, das der jungen Frau im Hintergrund widerfahren wird. Entweder sind die Menschen zu winzigen, weit entfernten Staffagefiguren zusammengeschrumpft oder aber sie treten voll ins Bild wie die junge Frau mit dem wissend-fragenden Gesichtsausdruck auf ihrem einsamen „Nächtlichen Weg“ (2005) an der diagonalen Häuserfront der Berliner Auguststraße entlang – was hat sie hinter sich gelassen, was steht ihr noch bevor? „Uferfeste (Sassnitz)“ (2008) – der wehrhafte, festungsartige Charakter der auf einem Felsen sich auftürmenden Mietshaus-Architektur wirkt bedrohlich – wie können dort Menschen leben? Aber vielleicht hat dieses Gebäude bisher seine Bewohner vor jeglichen schädlichen Einflüssen der Außenwelt zu schützen vermocht. Auf jeden Fall ist dieses Bild nicht frei von Verweisen auf etwas hinter den Dingen Verborgenes. Das Haus ist zum magischen Gegenüber des Betrachters geworden und starrt diesen ebenso unverwandt an wie dieser das seltsam konstruierte Steingebilde vor sich. Ein Zwiegespräch kann allerdings erst dann stattfinden, wenn der Mensch die gängige Ansicht abgelegt hat, ein Haus sei ein Gegenstand des täglichen Gebrauchs wie jedes andere Ding, das er geschaffen hat.
Gelegentlich muten die Figurendarstellungen wie Illustrationen zu dem Betrachter unbekannten Geschichten oder menschlichen Schicksalen an. Diese „anekdotischen“ Bilder – ich möchte sie einmal so bezeichnen – erwecken den Eindruck, als präsentierten sie einen eminent wichtigen Ausschnitt aus einem Gesamtgeschehen, welches für den uneingeweihten Betrachter jedoch nicht so ohne weiteres rekonstruierbar ist und mitunter rätselhaft bleibt. Wenn hier auch eine allgemein verbindliche Auflösung fehlt, so lösen diese Bilder stattdessen doch eine Vielzahl der unterschiedlichsten Assoziationen aus und erfahren somit erst durch die Mitarbeit des Betrachters eine wie auch immer geartete Erklärung. Dem Thema Lebensalter sind „Biographien“ (2003/06) gewidmet, weibliche Akte in einer sie bezeichnenden Haltung. Die Goetheschen „Wahlverwandtschaften“, eine wechselnde Liebesbeziehung zwischen vier Menschen, die in die Katastrophe führt, werden im Bild wie eine Versuchsanordnung betrachtet. Allegorisch kommen Frauenakte auch als Verkörperungen von Jahreszeiten daher. Sandra Rienäcker will den geheimnisvollen Aspekt menschlichen Daseins und Alterns mittels präzise geschilderter und mitunter banaler Alltagsszenen aufspüren und für den Betrachter erfahrbar machen. Ihren Dialog mit vertrauten Gestalten (ebenso mit sich selbst, denn viele Figuren tragen ihr Antlitz) setzt sie in Bildnissen fort, die sie wie in einen Raum der Erinnerung außerhalb der Zeit stellt. Bilder an der Nahtstelle von Schein und Sein.
Eine Schönheit des Seltsamen, die aus unerwarteten Zusammenstellungen von Stimmungen, Klängen, Bildern, Dingen und Personen entstanden ist. Sehnsucht, Einsamkeit und Traum. Die Angst vor der Leere und der magische Blick auf die Dinge. Das alles verdichtet sich in Rienäckers Bildern zu visuellen Gleichnissen. Ist das eine neue Art von magischem Realismus oder magischem Verismus? Die Genauigkeit der dargestellten Objekte steht im Gegensatz zu ihrer merkwürdigen Irrealität, ihrer traumverlorenen Starre, die als gefrorene Bewegung erscheint. Auf jeden Fall entsteht aus diesem Widerspruch eine spannungsgeladene Bildatmosphäre. Diese Werke beleben und berühren uns, stoßen uns ab und ziehen uns an.
Galerie 100, Konrad-Wolf-Str. 99, 13055 Berlin, Di-Fr 10-18 Uhr, So 14-18 Uhr, bis 29. September.
Schlagwörter: Klaus Hammer, Sandra Rienäcker, Verismus, Wolfgang Peukert