von Klaus Hammer
Nicht die Dinge selbst, nicht deren Projektion auf die Fläche waren das Thema der Arbeit des Zeichners Arno Mohr, sondern die Beziehung zu ihnen. Mit der sensiblen und gespannten Energie dieser Beziehung mußte der Arbeitsprozess korrespondieren, um etwas von dem zu vermitteln, was wir in unserem Erleben als wirklich empfinden.
Diese Art von Beziehung stellte sich her durch Aufmerksamkeit und Zuwendung, durch Blickschärfe und eigene Betroffenheit, manchmal auch durch Zusammenstoß, aber nicht alles war so zu erobern. Es waren vorrangig Orte und Situationen, die mit positiver Gefühlsbetonung erlebt wurden, an denen sich ein ausgesprochenes Interesse für die sie konstituierenden Elemente entzündete. Bei Arno Mohr war das zunächst das Atelier, die Werkstatt, wie er sagte: der Raum, die Dinge, der Arbeitstisch mit dem Blick aus dem Fenster, die Zeichenwerkzeuge, das Mobiliar, dann die Wohnung, das Innen-Außen und schließlich die Wanderungen durch die Stadt, durch Berlin und seine nähere und weitere Umgebung. Zeichnung und Farbstudie entstanden erst später aus der Distanz, in Ruhe und ungestört: Sie waren Zusammenfassung, Verdichtung.
Die Distanz, die man beispielsweise zu einer menschlichen Figur einnehmen muss, um sie mit einem Blick als Ganzes wahrzunehmen, führt zu relativ kleinen Maßen, lehrt uns Alberto Giacometti. So nimmt es nicht Wunder, daß die kleinen Arbeiten Arno Mohrs eine ganze Welt enthalten können, während er im Großformat den Ausschnitt bevorzugt. In der Nähe wirkt das Detail, in der Ferne das Ganze, zu gegenständlichen Restformen geronnen.
Viele hat er, der langjährige Lehrer für Naturstudium und druckgrafische Techniken an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee und Leiter der Grafik-Werkstatt (bis 1975), zeichnen und drucken, Maß halten gelehrt, die heute selbst anerkannte Künstler sind. Und doch sagte er von sich: „Meine Hochschule war und ist die Straße“. Das spezifisch Berlinische ist für ihn, den am 29. Juli 1910 in Posen (heute Poznan) Geborenen, der aber schon nach dem ersten Lebensjahr mit den Eltern in den Osten Berlins übersiedelte und – abgesehen von der Soldatenzeit im Zweiten Weltkrieg, von Kriegsgefangenschaft und Reisen – bis zu seinem Tode 2001 hier geblieben ist, ein bestimmender Wesenszug seiner Kunst: Er hat die Traditionslinie von Chodowiecki über Schadow, Hosemann, Menzel bis Liebermann und Zille fortgeführt. Das Liebermann-Wort „Zeichnen heißt Fortlassen“ hat Mohr – besonders in den Lithografien – in eine ihm gemäße Form umgesetzt. Ein warmherziges Verhältnis zum Leben, sensitiv, pointenreich, aber pathosfrei, verband er mit der Knappheit und Prägnanz der Form, dem geschärften Blick für das menschlich Wesenhafte in Bewegung, Gestus und Haltung seiner Gestalten und für das Fluidum des Milieus. In der fast spielerischen Ungezwungenheit, der scheinbar flüchtigen, mit leichter Hand, oft als Bildstenogramme hingesetzten Zeichnung verbarg sich ein hohes Maß ständiger Lebensbeobachtung: „Ich habe mit den Augen mehr noch gezeichnet als mit der Hand“. Das spannungsvolle, Raum, Licht und Farbe suggerierende Zueinander von gezeichneter und freier Fläche hatte noch der 86jährige Künstler mit Tafelbildern zu demonstrieren gewusst. Doch ein Monumentalist war er nie gewesen. Er blieb der große Meister der kleinen Form.
Eine eigene Stellung nehmen die mit Feder, Kreide, Kohle hingeschriebenen, auch als Litho gestalteten Porträtskizzen ihm befreundeter Menschen, der Weigel, Brecht, Hanns Eisler, des Dresdner Zeichners Wilhelm Rudolph ein, in denen er in oft flüchtiger Geste Wesentliches über den Charakter auszusagen vermochte. Immer wieder hat er tägliche Verrichtungen und das häusliche Umfeld der Menschen ins Auge gefaßt. „Berlinerisch finde ich es, in seinem Quadrat, in seinem Bereich zu bleiben, von dem man etwas versteht“, war seine Überzeugung. Sein Weg führte ihn vom Arbeitsplatz und von der eigenen Wohnung zu den Berliner Kneipen, Kaffeehäusern und Gartenlokalen an der Spree, vom S-Bahnhof Hackescher Markt und der Weidendammer Brücke zur Oranienburger Straße, Chausseestraße und Unter den Linden, von der Friedhofsecke und dem kleinen Rummelplatz in Alt-Berlin zur Museumsinsel mit ihren imponierenden Bauten. Er nahm den „einsamen Mann“ wie einen dunklen Punkt in der unendlichen Horizontale der Landschaft wahr, beobachtete aus der Ferne die „kleine Unterhaltung“ zweier Frauen, winzigen Figuren mit einem nur angedeuteten Ambiente auf dem „leeren“ Blattweiß, den Ausflugsdampfer auf dem Müggelsee, die „Kiefern am See“, Weite und Kargheit der märkischen Landschaft demonstrierend. Er zeichnete aber keine menschenreiche Kneipen-, Straßen- oder Rummelplatzszene, er wählte einen „unscheinbaren“ Teilaspekt und führte ihn auf überraschende Weise weiter. Er komplettierte die Szene nicht zum Genrebild. Die Geschichten, die wir uns angesichts seiner Sujets erfinden, sind selbstverständlich immer falsch, denn diese Sujets illustrieren keinen Sachverhalt, der sich auch in Worte fassen ließe. Mohrs Blätter sagen viel, aber sie erzählen nicht. Die Tatsache, daß diese Zeichnungen in hohem Maße die Phantasie anregen und zugleich Zeichnungen von hoher Qualität sind, macht ihre Besonderheit aus. Mit sparsamstem Strich vermochte er eine unverwechselbare Atmosphäre zu vermitteln. Aus dem flächigen Weiß des Blattes entstand andeutungsweise die Körperlichkeit der Figur. Angesichts dieser Arbeiten hat die Kritik von einer bis zum Letzten genutzten Ökonomie der Mittel gesprochen. Ein fragmentarischer Stil, eine Minimalgeste nur.
Er hat mit Kohle und Kreide, Feder und Pinsel gezeichnet, die aquarellartig lavierenden Techniken oder den Mehrfarbendruck vollendet beherrscht. Als Meister druckgrafischer Techniken schnitt er ins Holz, radierte er oder bearbeitete er den Lithostein. In der Lithografie, seinem bevorzugten grafischen Ausdrucksmittel, nahm er die Tradition Munchs, Corinths, Slevogts und der Kollwitz wieder auf und entwickelte sie zu hoher Meisterschaft, einer Meisterschaft des Zeichnens und Druckens. Er machte die Lithografie wieder volkstümlich.
Immer wieder hat er sich selbst gezeichnet. Aufgerichtet, über der Arbeit versunken, resignierend, aber nie sich aufgebend, vergeistigt, das Gesicht wie entmaterialisiert. Rechenschaft über sich selbst ablegend, verschlossen, in sich gekehrt, verletzbar, Zweifel und Selbstvergewisserung in einem.
Das stille Medium der Zeichnung und Grafik war ihm wie auf den Leib geschrieben. Die Poesie der Szene kann nur in künstlerischer Form überleben, sie beruht auf der freien Erfindung der Formelemente und dennoch auf ihrer klaren zeichnerischen Präsenz, fern jeder Voyeurperspektive. Die Formelemente haben die konstruktive Spannung eines Netzes, das jeden noch so gewagten Salto mortale sichert. Eine Verzauberung durch Maß, Poesie und neu bestimmtes Material. Ihr ins Offene tendierendes Experiment, konzentriert und ernsthaft gelöst, vermittelt den Eindruck von Kostbarkeit, aber auch von Verletzlichkeit, ein gutes Lebensgefühl, ein Gefühl der Schönheit, Lebensfreude und Harmonie, aber auch für die dunklen Seiten des Lebens. Zustände von Dingen und Erscheinungen in einem zugespitzten Stadium wechselseitiger Bedingtheit, poetische Metaphern für fließende Übergänge. Arbeiten an den Grenzen zunehmend verfliegender Gegenständlichkeit, deren Reste Verwandlung und Verzauberung, Traum und Sehnsucht suggerieren. Nicht nur die Sujets, die Blätter selbst müssen behütet werden.
Zum 100.Geburtstag des Künstlers wird in der Galerie Eva Poll, Anna-Louisa-Karsch-Str. 9, Berlin-Mitte, Malerei und Grafik von Mohr bis 31. Juli gezeigt. Mit ihm zusammen stellt seine einstige Schülerin Sabina Grzimek Skulpturen aus.
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