von Mordechay Weinryb
Meine Damen und Herren, liebe Freunde. Mein Name ist Mordechay Weinryb. Geboren bin ich in Polen, in einem kleinen jüdischen Schtetele. Hier lebten über 600 Jahre lang Juden, 1939 zählte es 3.000 jüdische Einwohner. Als der Krieg in diesem Jahr ausbrach, war ich 17 Jahre alt.
Nach Kriegsbeginn war ich in vielen Ghettos, Zwangsarbeiterlagern, auch in Verstecken und nahm am Widerstand gegen die faschistischen Okkupanten in Polen teil. Ich gehörte der jüdischen Kampfgruppe ZOB an, das heißt, der Zydowska Organizacja Bojowa. 1943 kämpfte ich im Aufstand des Ghettos von Czestochowa.
Nach dem Aufstand im Warschauer Ghetto im gleichen Jahr hatten die faschistischen Barbaren im Juni unser Ghetto überfallen. Von Kollaborateuren hatten sie erfahren, daß wir über Waffen verfügten, Bunker angelegt hatten und nach dem Vorbild des Warschauer Ghettoaufstandes einen Aufstand im Ghetto Czestochowa vorbereiteten. Sie überfielen uns blitzartig. Das Ghetto war umzingelt, sie drangen mit all ihrer Brutalität ein. Es war ein schwerer Kampf. Auf beiden Seiten gab es Tote. Hunderte jüdische Menschen lagen tot auf den Straßen, das Ghetto brannte. Überlebende wurden auf dem Markt zusammengetrieben, er hieß polnisch Ryneczek. Dort führten Wehrmacht, SS, Gestapo und SA gemeinsam mit Ukrainern Selektionen durch. Etwa 300 jüdische Menschen wurden zum jüdischen Friedhof getrieben, dort erschossen und in ein Massengrab geworfen.
Die Überlebenden kamen in die in der Stadt befindliche Fabrik HASAG. Das war ein deutscher Rüstungsbetrieb und zugleich ein Zwangsarbeiterlager. Dort arbeitete ich bis 25. Januar 1945, entweder in der Tag- oder in der Nachtschicht.
Nach der Befreiung Warschaus durch die Rote Armee am 17. Januar 1945, näherte sich diese im Rahmen ihrer großen Offensive Czestochowa. 2.000 jüdische Menschen wurden durch die Rote Armee befreit. Ich arbeitete gerade in der Nachtschicht und befand mich in einer Baracke, als die Faschisten uns, es waren 25 Grad Kälte, ins Freie trieben. Man kann sagen, halbnackt. Mit Hunden gejagt, verlud man uns wie Vieh, jeweils 120 Menschen in einen Waggon gepfercht. Wir zitterten vor Kälte, vor Hunger, blieben ohne Wasser. Vier Tage und vier Nächte waren wir unterwegs, bis wir spät in der Nacht in Buchenwald ankamen. Man prügelte uns, nackt ausgezogen wurden wir mit kaltem Wasser und Chemikalien übergossen, das nannten sie „Desinfektion“. Unsere Leiber brannten wie Feuer. Wir erhielten gestreifte Häftlingskleidung und kamen ins „Kleine Lager“, das jüdische Lager. Es war ein Todeslager mit schrecklichen Bedingungen. Nachdem wir um 5.00 Uhr, bei 25 Grad Kälte, auf dem Appellplatz antreten mußten, wurde mitgeteilt, daß ein Häftling geflohen sei. Deshalb standen wir drei Stunden. Erfrorene Häftlinge wurden auf Wagen geworfen und ins Krematorium gebracht.
Liebe Freunde.
Papier und Tinte würden nicht reichen um alle Grausamkeiten und Leiden zu beschreiben, die man uns Menschen zufügte. Die Alliierten bombardierten die zum Lager gehörenden Rüstungsbetriebe, auch das Lager selbst. Ich gehörte zu den Häftlingen, die in den Ruinen Steine von einer Stelle zur anderen und wieder zurück räumen mußten, nur um unser Leben zur Hölle zu machen.
Eines Tages trieb uns die SS nach Weimar. Das waren sieben Kilometer hin und wieder zurück. Unsere Ration betrug 100 Gramm Brot. Wir waren einige hunderte Häftlinge, die auf einem Platz Aufstellung nehmen mußten. Privatunternehmer suchten sich unter uns Arbeitskräfte heraus. Ein dicker Deutscher beglotzte uns, begrapschte uns, prüfte, ob wir noch Muskeln haben. Fünf von uns nahm er mit in eine Bäckerei. Im ersten Moment waren wir zufrieden, daß wir in eine Bäckerei kamen. Dort angekommen, roch es nach Brot und Kuchen. Wir erhofften, daß der Besitzer uns ein Stückchen Brot geben würde. Der Bäckermeister begann jedoch zu brüllen, jagte uns auf den Hof, um Holz zu schleppen. Anstelle eines Stückchen Brotes schlug er jedem mit einem Holzscheit auf den Kopf. So arbeiteten wir bis 16.00 Uhr. Anschließend trieb man uns wieder ins Lager zurück.
Am 5. April war das Tor des KZ Buchenwald geschlossen, als wir zurückkamen. Niemand kam hinein, niemand kam heraus. Nie werde ich die Bilder vergessen, die in mein Gedächtnis eingegraben sind.
Eines baldigen Abends forderte die SS über Lautsprecher alle Juden auf, sich auf dem Appellplatz aufzustellen. Wir waren etwa 8.000 Menschen. Das Internationale Antifaschistische Lagerkomitee warnte uns, dem Befehl Folge zu leisten, da wir auf einen Marsch in den Tod getrieben werden sollten. Niemand stellte sich. Frühmorgens wurden aus allen Baracken des Kleinen wie des Großen Lagers die Häftlinge von schwerbewaffneter SS auf den Appellplatz getrieben. Es waren jüdische Menschen, deutsche politische Häftlinge, Polen, Russen, Franzosen, Belgier und Holländer. Ich stellte mich zu den Polen. Am frühen Abend versteckte ich mich in der Baracke der Franzosen, auf einer der hintersten Pritschen, für eine Nacht.
Die SS trieb etwa 6.000 Juden auf den Todesmarsch, die anderen fanden gewissen Schutz in den Reihen der anderen Nationen. Am nächsten Tag wurden die Polen ans Tor getrieben. In ihren Reihen befand auch ich mich. Die SS brachte uns in ein Waldstück, wollte alle ermorden, schaffte dies jedoch nicht, weil sie vor einem alliierten Luftangriff flohen. Wir versteckten uns, aber einige wurden doch nach der Rückkehr der SS erschossen. Einige hundert Juden wurden erneut in Waggons verladen und ins Ghetto Theresienstadt in Marsch gesetzt. Dort lag ich mit Typhus und Dysenterie im Häftlingskrankenhaus. Die Rote Armee befreite mich.
Mit goldenen Lettern wird der antifaschistische Widerstand gegen die faschistische Barbarei, gegen den Massenmord an Millionen unschuldiger Menschen, ins Buch der Geschichte eingetragen sein.
Ruhm und Ehre gebührt den tapferen Männern in Buchenwald, die ihr Leben opferten, für das Leben von Kindern, für das Leben jüdischer Menschen. Deutsche Antifaschisten haben die Ehre des deutschen Volkes gerettet. Die ganze Welt soll wissen, dass nicht alle Deutschen schuldig am großen Verbrechen geworden sind.
Wir, die Kämpfer gegen den Faschismus, die Überlebenden von Buchenwald, Ghettos und Konzentrationslagern haben geschworen: Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg, nie wieder Rassismus, nie wieder Ausländerfeindlichkeit und Neonazismus. Wir, nur wenige noch die leben, jedoch Abschied von dieser Welt nehmen müssen, treten ein für Frieden in der Welt. Wir haben geschworen nichts zu vergessen, nichts zu verzeihen, was Faschisten und ihre Helfershelfer dem jüdischen Volk und anderen Völkern angetan haben. Es ist eine Verpflichtung und Appell an die kommenden Generationen ewig der Opfer zu gedenken und die Denkmäler von Buchenwald und anderer Konzentrationslager zu pflegen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Ansprache auf der Gedenkveranstaltung am 11. April 2010 in der Gedenkstätte Buchenwald
Schlagwörter: Antifaschismus, Buchenwald, Ghetto, Mordechay Weinryb, Motek Weinryb