13. Jahrgang | Nummer 10 | 24. Mai 2010

Die Holzstruktur als Lebenschiffre

von Klaus Hammer

Mehr als vier Jahrzehnte lebte er, an der Peripherie der Großstadt Dresden, in dem Moritzburger Landschaftsraum, in dem schon die Künstler der „Brücke“ zeichneten und malten, in dem Käthe Kollwitz ihr letztes, schweres Lebensjahr verbrachte. Und dem künstlerischen Credo von Vincent van Gogh, Ernst Barlach, Paul Klee und Käthe Kollwitz fühlte er sich auch zeitlebens verpflichtet. Aber als seine wichtigste, unduldsame Lehrmeisterin hat er die Natur bezeichnet. Die Natur lieferte ihm Materialien, Hinweise, Zeichen, aus ihnen stieg ein grafisches Gebilde, formte sich als Anordnung auf der Fläche aus und erreichte schließlich eine Lagerung, aus der die einzelnen Hinweise und Zeichen der Natur simultan vom Grunde durchscheinen. In der Maserung des Holzes sah er Diagramme des Wachstums, in den Rissen das des Verfalls. In der Relief-Struktur der Hügel verwandelte die Natur den Prozess des Wehens in Zeichnung. Das feine Muster im Sand des Bachbettes drückt den Prozess des Strömens mit Präzision aus. Sterbende Weiden in einem stehenden Tümpel wurden zum Sinnbild verzweifelter Gegenwehr. Die Aushöhlung eines Baumes erscheint als Wachstums- und Lebensraum. Der Künstler wollte also nicht die gegebenen begrenzten Endformen der Natur nachbilden, sondern die sie verursachenden Wirkkräfte – das Werden und Vergehen, das Wachsen und Strömen, das Wehen und Schweben, das Steigen und Fallen – begreifen und aus ihnen bilden. Deshalb beachtete er im verwirrenden Angebot der Natur gerade diese Diagramme und legte die Natur in ihrer produktiven Tätigkeit seiner Vorstellung und seinem Formdenken zugrunde.

Anniès’ Skulpturen sind Wachstumszeichen, Naturverdichtungen, Raumbewegungen, die sich endlos begegnen und zwanglos durchdringen. Eine Aushöhlung kann aus sich selbst heraus so viel Formausdruck haben wie massives Volumen. Der Innenraum ist dem Künstler Symbol der Unzerstörbarkeit des Lebens. Das plastische Gebilde wird in seiner gespannten Statik erfasst, als großzügiger Rhythmus des Konvexen und Konkaven, der dunklen Schattenhöhlen und hellen Lichtreflexe. Der Bildhauer hat freie Visionen des Liegens, des Emporwölbens, Aufsteigen und Versinkens, des Horizontalen und Vertikalen geformt. So sind die Formen in ewiger Verwandlung begriffen, eine plastische Verdichtung humanen Erlebens.

In zyklischen Reihen geordnet, kann man sie allansichtig, in ihrer strengen Metrik wie beschwingten Rhythmik, als Bewegungsskulpturen begreifen. Sie nehmen ihre Struktur von den Holztiefdrucken auf bzw. geben sie an diese weiter, so dass eine unmerkliche Bewegung durch die Ausstellungsräume geht. Gerade die Holztiefdrucke Hans Georg Anniès stellen eine besondere künstlerische Innovation dar, der wir uns noch gar nicht so recht bewusst geworden sind.

Der herkömmlichen Grafik, die eine Vervielfältigung der Zeichnung war, hat er durch mehrfache Druckvorgänge mit ein und demselben Druckstock ein Ende gesetzt. Solange er noch Holzschnitte machte wie die „Brücke“-Künstler, vor allem Emil Nolde, erreichte er nicht die angestrebte Sensibilität, musste er noch das Holzgewebe zerstören. Er wollte aber die natürliche Holzstruktur in ihrer einmaligen Schönheit erhalten, die „Lebensspur des Baumwachstums“, wie er sagte, zum gänzlich miteinander bezogenen Bestandteil des Bildes machen. So begann er tief zu drucken und erreichte ein Zusammenwirken von vorgegebener, durch das Holz vorgeprägter und dazugetaner Form wie bei der Plastik. Es entstand in seinen Grafiken ein transparenter Raum, der die Holzstruktur als Lebenschiffre einbezieht.

Der Druckstock wurde immer wieder anders eingesetzt und brachte deshalb stets ein anderes Bild hervor. Jeder Druck ist also ein Unikat. Der Druckstock, selbst ein Stück Natur, aus einem Baum geschnitten, dessen Gewebe und Strukturen, die Zellenformen, die helleren, äußeren Zonen und der dunkle gefärbte Kern bleiben erhalten und verhalten sich kontrapunktisch zu den Hinzufügungen des Künstlers. In dem Moment, in dem Anniès ein neues Element hinzufügte (Bildzeichen, Chiffren, elementare Formen der Baumästhetik wie Kreis, Spirale, Samenkorn, Dreieck, Viereck oder Kreuz, das Baumkreuz, die sich räumlich aufrichten zu schweben oder zu rotieren scheinen, Hell-Dunkel-Kontraste), fängt die Natur an, sich zu verwandeln. Die Natur erhält die Bedeutung einer Bildmetapher, die in Richtung einer naturphilosophischen, anthropologischen oder auch kosmologischen Dimension weisen kann.

Der Grafikzyklus „Großer Gesang der Bäume“ von 1999 – so nach einem Rilke-Vers benannt – besteht aus sieben Arbeiten und zeigt jeweils eine negative oder positive Kreisform, der jedes Mal ein anderes Holz zugrunde liegt. Seine Verbindung von endloser Linie und statischer Ruhe ließen den Kreis zum Symbol der Zeit und Unendlichkeit, des Lebens werden. Das Papierweiß wird zum Raum. Je nachdem, ob der Kreis sich öffnet oder schließt, ob ein dunkles (positives) Kreissegment nach hinten und ein helles (negatives) nach vorn rückt, ob der Kreis von Wirkkräften des Wachsens und Strömens, des Wehens und Schwebens oder des Steigens und Fallens umspielt wird, ergeben sich mit den wechselnden Formbefunden auch ganz unterschiedliche Seinserfahrungen: Bewegung und Ruhe, Schweben – Balance – schwerelos, labil – verletzlich – unberührbar, Übergang – Verwandlung, Erinnerung – Ahnung – Traum, Dämmerung – Lauschen – Einsamkeit, Schein – Sehnsucht – Sein. Weiß und Schwarz ergeben ein Grau in verschiedenen Valeurs und Abstufungen, das den Strukturen eine ungeheure Transparenz, Fragilität und Flüchtigkeit verleiht. Wenn etwa ein Viertel des Kreises offen bleibt, dann scheint hier ein Moment der Sehnsucht, der Hoffnung auf. Und wie würde sich ein Dreieck verhalten? Was würde passieren, wenn man mit demselben Druckstock mehrfach druckt und ihn dabei immer weiter in die Diagonale bringt? So ergeben sich völlig entgegen gesetzte Formbefunde, nur um 180 Grad gedreht und neu zusammengesetzt – und das alles mit ein und demselben Druckstock. Hans Georg Anniès hat eine unverwechselbare, eigene Formensprache in unsere Kunstlandschaft eingebracht.