13. Jahrgang | Nummer 7 | 12. April 2010

Unsere Berufe sind Brüder. Eine Erinnerung

von Lutz Rathenow

Gerade gab es (nicht nur im Feuilleton) eine heftige Diskussion unter deutschen Autoren rumänischer Herkunft über die zeitweilige (rumänische) Geheimdienst-Mitarbeit von Werner Söllner (in den siebziger Jahren in Rumänien) – heute ein im Frankfurter Kulturleben fest etablierter Autor. Was bedeutet das nun? Heute? Jeder Fall liegt anders, und keiner ist nur ein Fall, sondern eben auch die Biografie eines Menschen, und der hat halt nur eine zur Verfügung, auch wenn mancher gern die Seine in bestimmten Situationen in eine andere zu verwandeln versucht. Es zeigt die Qualität der Geschichtserhellung wie weit beim Herausarbeiten von Bezügen, abstrahierenden Deutungen, Linien, also der Geschichte an sich, der Handlungsraum des Einzelnen nicht hinter Verallgemeinerungen verschwindet. „Unsere Berufe sind Brüder!“ ließ einmal der DDR-kritische Schriftsteller Thomas Brasch einen Staatsanwalt zu einem Autor sagen. In einem Gedicht. Der eine verhörte gerade den anderen. Was wollte der Dichter damit ausdrücken? Staatsmacht und Staatssicherheit ermitteln und wollen alles wissen, die Literaten im eigenen Auftrag oder den einer vermeintlichen Wahrheit eigentlich auch. Im übrigen ist die Situation stilisiert, Staatsanwälte verhörten in der DDR keine Leute, aber vielleicht dachte Brasch auch an den Gerichtssaal.

Soweit sollte es eigentlich gar nicht erst kommen, daß Literatur im Gerichtssaal behandelt werden mußte. Auch dafür sollten die Herren von der unsichtbaren Front – wie sich das MfS-Personal gern nennen ließ, wenn es schon einmal genannt werden wollte – da sein. Rechtzeitig die ersten Blüten des Feindes erkennen und sie von den Ästen der Gesellschaft zupfen, bevor sie zu stattlichen Früchten des Gegners heranwuchsen.

Nein, nicht alle wurden wegverhaftet, und in der DDR war wenig Platz für entlegene Gulags in kaum besuchten Landstrichen. Man zog ambitionierte Menschen lieber auf die eigene Seite und verwickelte sie in die eigene Machtgestaltung. Nichts anderes waren die Inoffiziellen Mitarbeiter, die IMs der Staatssicherheit in der DDR, im gehobenen intellektuellen Milieu. Es sollten Spitzel werden, die nicht das Gefühl hatten, Spitzel zu sein. Und wäre doch nicht oft eine Grundangst vor der Staatsmacht und ihren beliebigen Möglichkeiten am Anfang der Zusammenarbeit gewesen, wäre die DDR-Stasi nicht auch mit ganz billigen Erpressungsszenarien in diese eingestiegen – die Informantendichter hätten meinen können, sie seien etwas ganz besonderes. Und ihre Zusatztätigkeit nur ein Grad mehr auf der Richterskala für den Bedeutungsmehrwert der DDR-Literatur unter den Bedingungen der DDR. Die Kundschafter der stillen Erkundung, wie der Dramatiker Helmut Baierl einmal DDR-Spione zu loben versuchte, fühlten sich eher als Elite und nicht als schäbige Verräter.

Die Kreativität der Stasi und ihre Art, sich nicht als Verbrecher fühlen zu müssen, hing mit dieser differenzierten Weise des Zusammenwirkens mit den freischaffenden Zusatz-Kräften zusammen. Nichts in den Stasi-Akten Seiten ist unterschiedlicher als die Arbeits-Intensität der IMs. Lustlos und minimalistisch berichterstattend die einen, opulent ausmalend und geschwätzig die anderen. Einer gab einmal nicht nur die gesagten Sätze wieder, sondern versuchte die Augenbrauenbewegungen und die vermutbaren Gedanken zu deuten. Und die Staatssicherheit? Die wollten keinen Atlas der psychologischen Gesamtbefindlichkeiten der Bevölkerung erstellen, die wünschten eher effiziente Übermittlungen und ein paar persönliche intime Details, um bei Bedarf überraschen zu können. Und hatten eine Schar von bis zu 200 000 nebenberuflichen Mitarbeitern gleichzeitig, die zwar in ähnlicher Form aktenmäßig geführt worden sind, die aber – war ihr Erlebnisumfeld interessant genug – ganz individuell belastet worden sind. Je nach persönlich unterschiedlicher Belästigungslust. Jeder sollte soweit Spitzel werden, wie er dies auszuleben vermochte. Denn nach der Angst (für manche nicht vorhanden) kam für einige die Lust an dieser Extra-Bedeutung und konspirativen Parallel-Karriere. Es war wahnsinnig mies und gleichzeitig verführerisch frivol in einer Gruppe von Diskutierenden auf einer nicht genehmigten Lesung zu sein, von allen für sehr mutig gehalten zu werden, andere in ihrem subversiven Treiben zu ermuntern oder zu bremsen und beim Flirten mit einer Dame schon einmal daran zu denken, daß von ihrer Sexbereitschaft jetzt der eigene Bericht über sie abhängen würde.

Das ist die triviale Variante. Die feinere und hinterhältigere (ohne auf triviale Schweinereien zu verzichten) verkörperte keiner so innig wie der Szenedichter vom Prenzlauer Berg Sascha Anderson, der es vielleicht nur mit dem inspirierenden Schutz der eigenen Zu-Arbeit schaffte, unberechenbar, frech , kühn und gleichzeitig wirre, die politische Opposition instinktiv lähmend und im Nachhinein betrachtet dann doch einfältig zu agieren. Er durfte devisenschmuggelnde, kleinkriminelle, sich in verschiedenen Genres selbstverwirklichende Kunst-Boheme sein und um sich herum anregen, um den Leuten die Lust an konstruktiver politischer oder auch nur journalistischer Opposition zu nehmen.

Die Enträtselungsspiele, was authentisch und was Stasi-geprägt war, halten bis heute an, und keiner der Beteiligten kann sich da sicher sein. Denn das MfS wollte alles wissen, und gleich-zeitig interessierte es die Details von Kunst und Literatur gar nicht – außer der Frage ihrer politischen Wirkung und jener Dauerfrage WER IST WER, ständig mußte jegliche Szene in Freund oder Feind sortiert sein. Im Grunde schätzten die MfS-Leute es zum Beispiel, es in der praktischen Arbeit am Prenzlauer Berg oft mit experimenteller Lyrik zu tun zu haben, die ihnen zwar Kopfschmerzen mache – wie mir einmal ein Vernehmer gestand: Er könne das ganze Zeug nicht mehr sehen – die aber über keinerlei Wirkung in die nichtschreibende Bevölkerung hinein verfügte. Ein Romanversuch über den Prenzlauer Berg mit der von der Kulturpolitik angeblich gewünschten Perspektive des sozialistischen Realismus zum Beispiel, wäre an lauter ganz praktischen und die Menschen interessierenden Tabuthemen gestrandet und hätte die Stasi zum Handeln gegen seine Fertigstellung genötigt. Das MfS in der DDR mußte also in der Spätzeit faktisch gegen bestimmte kulturpolitische Richtlinien der Partei arbeiten, ohne dies vor sich und ihren IMs zugeben zu können. Die talentiertesten Verräter spürten wie Sascha Anderson die ungewollt entstandenen Freiräume und glaubten ein Diener zu sein, der seine Herren überlisteten kann – zum Beispiel in Westberlin als es munter weiterging mit dem übergesiedelten IM, der weiter versuchte, ein wenig alternativer Kulturminister zu spielen und die Szene in Ostberlin durch die Stasi weiter zu beeinflussen. Man lese seinen mehrfach zitierten Bericht über die Ausstellungseröffnung der Harald-Hauswald-Fotos aus dem Ost-berlinbuch 1987 in Westberlin und seine aus purer Beobachtung klug gespeiste Vermutung, wie gut der Autor Rathenow sich künftig mit dem neuen Kulturmann der bundesdeutschen Vertretung wahrscheinlich verstehen würde und wieso deshalb mit ihrer Zusammenarbeit zu rechnen ist.  Mein Freund-Feind, der Verräter und Szene-Inspirator Anderson, hatte recht. Für bestimmte Einschätzungen war er unersetzbar und vielleicht wertvoller als das die entsprechenden Offiziere überhaupt zu realisieren vermochten. Sie benutzten ihn, vertrauten ihm partiell, aber im Grunde brachte es einer der Offiziere in einem Film in den neunziger Jahren auf den Punkt: So ganz haben wir nie verstanden, warum der mit uns zusammenarbeitete. Eine Antwort könnte sein (und es gibt nie nur eine Antwort): um an der literarischen Selektionsrampe der DDR, die über Verbot, Duldung oder Förderung entschied, ein Wort mitreden zu können. Und er traute der Stasi da mehr lebensbeeinflussende und damit die Werkverbreitungsmöglichkeiten betreffende Maßnahmen zu als dem Ministerium für Kultur. Der Ehrgeiz, wie im Märchen die Guten ins Töpfchen der Aufmerksamkeit zu sortieren und auch durch die Stasi zu fördern (Bert Papenfuß, Stephan Döring u.a.) und die Schlechten ins Kröpfchen des Vergessen-Werdens zu lotsen (Jürgen Fuchs, Stephan Krawczyk, aber auch Lothar Trolle, Stephan Schütz u.a.) führte zu einer Selbstüberschätzung des eigenen konspirativen Einflusses. „Lutz, wir müssen wissen, was die Jungen schreiben, deshalb fördere ich sie! Ich will den Überblick behalten und lasse mir nicht die Butter vom Brot nehmen“, sagte einmal Sascha Anderson sinngemäß zu mir – am Beginn unserer Bekanntschaft in Ostberlin, die fast zur Freundschaft geriet, hätte man ihm jemals vertrauen können. Das konnte ich nie, aber – ehrlich bleiben! – ich hätte es gern gewollt. Die DDR durchschaute ich ziemlich gut, das Rätsel Anderson hatte ich noch nicht geknackt. Warum hörte ich zwei Jahre lang von ihm mitunter unter vier Augen erstaunliche Sätze einer bestimmten Selbstentblößung? Wahrscheinlich vermutete er, ich bin so etwas wie er. Auch so einer, der sich mit geheimnisvollen Männern in konspirativen Wohnungen trifft. Der nie nur radikale Oppositionelle und der geschickt kalkulierende Agent Provokateur liegen halt nah beieinander in ihren Verhaltensweisen. Und letzterer hatte Ambitionen, die über jene des MfS weit hinausgingen. Kurz vor seiner Westausreise betrieb er ein paar Wochen den Plan, die Dichter vom Prenzlauer Berg sollten eine Fahrt in den Libanon anstreben – nach dem Motto: „Dichter in den Krieg“. Thomas Brasch hatte in einer Westberliner Stadtillustrierten sich unter diesem Motto geäußert, das ständige Friedensgesäusel der Friedensbewegung konnte schon nerven. Oder redete Anderson mit mir über diese Idee, wir vom Prenzlauer Berg sollten das Rattern der Maschinenpistolen im Bürgerkrieg vom Libanon einmal live erleben und unseren Texten die Blutzufuhr des realen Krieges zukommen lassen? Damit wenigstens ich die Reise nach Beirut originell finde und beantrage und plötzlich als erste Westreise vielleicht sogar genehmigt bekomme? Wenn wir heute noch miteinander redeten, würde ich ihm diese Fragen schon gern stellen: War diese Idee seine Idee? Ich vermute es – die Stasi hätte sicher als Reiseziel den Teil Jemens bevorzugt, in dem sie zu der Zeit den Geheimdienst instruierten. Und die entscheidendere Frage an Sascha Anderson: Wäre er letztlich mitgeflogen?

Die Neuausgabe des zitierten und schon von Anderson observierten Buches „Ostberlin“ (Fotos Harald Hauswald) wird gerade vom Berliner Jaron-Verlag  für eine erweiterte fünfte Auflage vorbereitet