13. Jahrgang | Nummer 7 | 12. April 2010

Schwitzbad im ewigen Eis

von Wladislaw Hedeler

Der Ort Magadan und das Gebiet Kolyma waren zu Sowjetzeiten Synonyme für Gulag und Gold sowie für Zwangsarbeit und Steinkohle. Hier herrschte von 1931 bis 1957 das Kombinat Dalstroj. Hinter dieser Abkürzung verbirgt sich die für die Wirtschaft in Fernost zuständige selbständige Hauptverwaltung innerhalb des NKWD. Nach der Auflösung dieser und der anderen vergleichbaren Hauptverwaltungen wurden die Kombinate unter staatliche Verwaltung gestellt.

Wegen ihrer geopolitischen Bedeutung wurden Gebiete wie Kaliningrad und Magadan zu Sonderwirtschaftsgebieten mit einem eigenen Generalplan erklärt. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR sprach man von diesen nur noch als Krisenregionen.

Die von Pawel Grebenjuk, Absolvent der Rußländischen Akademie für Staatsdienst beim Präsidenten der Russischen Föderation verfaßte Studie ist die erste Untersuchung dieses Transformationsprozesses. Grebenjuk wertete sowohl die in regionalen als auch in den Moskauer Archiven überlieferten Akten aus und führte zahlreiche Interviews mit Zeitzeugen. Sein besonderes Interesse gilt dem territorialen Aspekt des beständig expandierenden Gebietes, der Zusammensetzung der überwiegend aus ehemaligen Häftlingen bestehenden Bevölkerung und der Veränderungen innerhalb der Eliten.

Nach der Absetzung des für die Durchführung des Großen Terrors verantwortlichen Volkskommissars Nikolai Jeshow trat Lawrentij Berija an dessen Stelle. Seine Leute ersetzten und verdrängten die Gefolgsleute Jeshows. So war es auch in Magadan, wo der als „Iwan der Schreckliche“ verschrieene Iwan Nikischow die Leitung von Dalstroj übernahm. Er verkündete, auf Säuberungen zu verzichten und setzte in der Kaderpolitik auf Stabilität, wobei er sich auf die neu ins Leben gerufene Politverwaltung stützte.

Letztere bildete ein Gegengewicht zu der für die Bekämpfung der Konterrevolution in den Besserungsarbeitslagern zuständigen 3. Abteilung des NKWD. Zwischen beiden Strukturen und ihren Leitern kam es ständig zu Konflikten über die Art und Weise der Planerfüllung. In den Kriegsjahren, das heißt in der Amtszeit von Nikischow, wurde das meiste Gold (bei ständig steigenden Selbstkosten) gewaschen. Als die Fördermenge zurückging, wurde Nikischow 1948 zunächst durch Iwan Petrenko, dann, 1950, durch Iwan Mitrakow ersetzt.

Alle genannten Leiter, die innerhalb der Lagerstrukturen zu hochqualifizierten Wirtschaftsfunktionären heranwuchsen, kamen aus dem NKWD-Apparat, der sie auch vor Angriffen und Denunziationen der 3. Abteilung schützte. Zusätzlich erhielten sie Verstärkung und Rückendeckung durch vom ZK der KPdSU(B) regelmäßig zur Arbeit ins Kombinat delegierte Nomenklaturkader.

Auf dieser Grundlage und (worüber im Buch zu wenig die Rede ist) der sich beständig verschärfenden Ausbeutung von Häftlingsarbeit entstand ein Leitungssystem, das durch einen extrem funktionalen Charakter geprägt war. Von 1932 bis 1956 starben in den Dalstroj unterstehenden Lagern über 127 000 Häftlinge. In der Verfassung vorgesehene Organe existierten im Herrschaftsbereich der Dalstrojkombinates nicht. Der Leiter des Kombinats war nur dem Wirtschaftsrat beim Ministerrat der UdSSR unterstellt.

Nach Stalins Tod änderte sich die Situation von Grund auf. Die Herrschaft der „Dynastie der Iwans“ war zu Ende, neue Clans meldeten ihre Ansprüche an. Zu den ersten, die auf die Veränderungen in der politischen Landschaft reagierten, gehörte ein Regisseur am Magadaner Theater, der Majakowskis „Schwitzbad“ inszenierte. Was hier über die Bühne ging, zog sich von 1954 bis 1957 – im Zusammenhang mit der Debatte über die Schaffung des Gebietes Magadan – auf höchster Parteiebene hin.

Mit der Öffnung des Gebietes für zivile Arbeitskräfte stellte sich die Frage ihrer Versorgung und Vergütung neu, denn es handelte sich im Regelfall um Saisonkräfte. Die Fluktuation war in Anbetracht der bisher ignorierten elementaren Lebens- und Arbeitsbedingungen hoch, eine Planerfüllung 1955 in 25 von 62 Betrieben nicht möglich. Hinzu kamen die Kämpfe zwischen den Bürokraten der örtlichen Verwaltung und der Ministerien, die im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Rücken der Bevölkerung ausgetragen wurden. In die „Freiheit“ entlassen, wollt keine der zerstrittenen Seiten die Verantwortung übernehmen. Die Protokolle der vom Verfasser ausgewerteten Parteikonferenzen, sind voller Beispiele dafür, wie administrative Maßnahmen versagten. Aufschlußreich ist die Untersuchung der während der Parteiversammlungen nach dem 20. Parteitag gehaltenen Diskussionsbeiträge zum Bericht von Nikita Chruschtschow in der geschlossenen Sitzung.

Bis zum 15. Mai 1956 wurde der Bericht in Versammlungen, an denen ca. 25 000 Parteimitglieder teilnahmen, verlesen. Die Tatsachen waren den meisten aus eigenem Erleben bekannt, klar war auch, daß der Bericht kein Alleingang war, sondern eine neue Linie ankündigte. Nur welche, das wußten die verunsicherten Hörer nicht. So blieb es bis zum Juni-Plenum des ZK 1957, das mit der „parteifeindlichen Gruppe Malenkow, Kaganowitsch und Molotow“ abrechnete.

Mit einer analogen Begründung, die bisherige, als Gruppe von Verschwörern verleumdete örtliche Führung habe bei der Planerfüllung völlig versagt, wurden von 1958 bis 1960 sämtliche Partei- und staatlichen Leitungen im Magadaner Gebiet neu besetzt. 1960 trat der Trust Nordostgold (Sewerowostoksoloto) an die Stelle von Dalstroj. Die während der Kritikkampagne am Personenkult gesammelten Erfahrungen erklären das Verhalten der Eliten beim Wechsel von Chruschtschow zu Breshnew. Helle Begeisterung und betroffene Ablehnung standen nebeneinander.

Pawel Grebenjuk: Kolymskoj ljod. Sistema uprawlenija na Sewero-Wostoke Rossii. 1953-1964. [Das Eis der Kolyma. Das System der Leitung im Nordosten Russlands. 1953-1964.] Moskau: Rosspen, 2007, 271 Seiten