von Heerke Hummel
Gewiß, das jüngste Bankentribunal von Attac-Aktivisten lenkte die öffentliche Aufmerksamkeit (wieder einmal) auf ein gravierendes Problem dieser Gesellschaft. Doch war der Focus richtig gesetzt?
Wie schon so oft in der Geschichte werden auch nun wieder, wenn auch nicht bewußt, Säue durchs Dorf getrieben, an denen sich die Allgemeinheit abarbeitet, das eigene Versagen verdrängend. Denn haben nicht alle – wenigstens Millionen und Abermillionen – mitgemacht beim Finanzroulette der Banken und Börsen, den Kitzel des Risikos und der Gewinnchance auskostend? Die Aussicht auf Reichtum, Zugewinn ohne eigene Arbeit und Leistung? Nun, da Finanzblasen geplatzt und Illusionen dahin geschmolzen sind, ist das Geschrei groß: Wir wurden betrogen, das Weltfinanzsystem an den Rand des Chaos gebracht und auf Kosten der Steuerzahler gerettet! Von wem? Von den Bankern und den Politikern, heißt es. Und: Vor Gericht mit ihnen! (Die Allgemeinheit ist inzwischen schon längst wieder zum Alltag der Spekulation zurückgekehrt, und die Mittellosen interessieren sich ohnehin nicht für das Schicksal von Banken und Finanzen, auch nicht für Staatsschulden!)
Weshalb eigentlich? Weil sie gegen geltendes Recht verstießen oder wider besseres Wissen handelten? Nein, das konnte und kann ihnen – von Ausnahmen kriminellen Handelns abgesehen – sicherlich auch nicht nachgewiesen werden. Weil sie falsch handelten? Ja, aber das ist nicht Klagesache vor einem Tribunal. Wäre falsches Handeln strafbar, dürfte es wohl keinen einzigen Nichtverurteilten auf dieser Welt geben.
Die Angeklagten dürften für sich reklamieren, sie hätten in bester Absicht und nach bestem Wissen und Gewissen agiert. Ihnen das zu glauben wäre ich sogar bereit. Und sie könnten argumentieren, im Auftrag und Einverständnis einer breiten Öffentlichkeit aktiv geworden zu sein, in Übereinstimmung mit geltendem Recht und den Regeln des Marktes. Und nicht zuletzt hätten sie zwar „wiederholt die öffentlichen Interessen an private ausgeliefert“ (so jedenfalls der Vorwurf von Chefankläger Elmar Altvater), aber damit eben nur umgesetzt, was sie auf Schulen und Universitäten einst gelehrt wurde: Die Wirtschaft sei Privatsache und werde vom Markt reguliert, und der Staat habe sich da heraus zu halten.
Bezeichnenderweise kamen auf diesen Punkt die Ankläger wohl nicht zu sprechen. Angesehene Professoren hätten ja sonst die eigene Zunft in die Schranken des Gerichts weisen müssen. Womit ich bei dem bin, was ich hier eigentlich feststellen möchte: Es muß bei der Auseinandersetzung mit der Finanzkrise nicht um die Benennung von Schuld und Schuldigen – abgesehen wieder von Gesetzwidrigkeiten – gehen, sondern um die Ermittlung der Ursachen. Und die liegen nicht bei einzelnen Institutionen oder Personen, sondern im gesamten System des Wirtschafts- und Finanzgebarens dieser Gesellschaft, letztlich also in deren Vorstellungen vom Wirtschaften, vom Geld und von den Finanzen. Den entscheidenden Einfluß darauf aber hat die Wirtschaftswissenschaft. Wenn überhaupt, wäre sie anzuklagen, allerdings nicht vor einem Tribunal. Auf jeden Fall gilt es, Ihr Versagen offenzulegen.
Versagt hat sie, indem sie aus früheren Erkenntnissen der Politischen Ökonomie Dogmen machte und die Veränderungen der ökonomischen Wirklichkeit während eines ganzen Jahrhunderts ungenügend theoretisch analysierte. Diesem Vorwurf müssen sich sowohl liberale (in der Nachfolge von A. Smith – 18. Jahrhundert!) als auch marxistische Wissenschaftler mit ihren zu ewigen Wahrheiten erhobenen Lehrsätzen stellen – vom Markt als unbedingtem und rationalem Regulator privaten Wirtschaftens die Einen, von der Notwendigkeit einer zentral gelenkten staatlichen Planwirtschaft der Gesellschaft die Anderen. Und sogar hier wäre nach den Ursachen zu fragen, damit die subjektivistische Erklärung gesellschaftlicher Prozesse durch eine Analyse der objektiv wirkenden Kräfte überwunden wird. Warum dachten Wissenschaftler und handelten Politiker beider Lager über Jahrzehnte, sogar ein ganzes Jahrhundert, so wie sie es taten? War es pure Dummheit? Doch wohl kaum! Befürchtung theoretischer, praktischer, auch persönlicher Konsequenzen und insofern Eigeninteresse? Vielleicht! Waren es die Umstände unter denen sie wirkten? Wahrscheinlich!
Die kranke, feindselig zerrissene Welt des 20. Jahrhunderts scheint das gesellschaftswissenschaftliche, speziell das ökonomische, und auch das politische Denken polarisiert zu haben. Einem Sprichwort zufolge macht Haß blind. Neues Denken – und mit ihm Reformbereitschaft – setzt demnach voraus, die Einheit dieser einen begrenzten Welt (mit ihren Gegensätzen), in der wir leben, nicht nur theoretisch anzuerkennen, sondern so zu verinnerlichen, dass diese Erkenntnis das Handeln bestimmt. Heute, nach mehr als zwanzig Jahren, darf es als das Verdienst damaliger sowjetischer (und auch chinesischer) Reformpolitiker angesehen werden, mit solchen Überlegungen eine Wende in den internationalen Beziehungen von der Konfrontation zur Kooperation initiiert zu haben. Auch wenn die folgenden inneren Reformen (in Ermangelung besseren Wissens und Könnens) einem Salto rückwärts glichen! Was nun ansteht, ist die überfällige Rolle vorwärts (international) als Reform des überkommenen gesellschaftlichen „Überbaus“ in Gestalt „bürgerlicher“ Verhältnisse, vor allem des Rechtssystems. Doch auch der muß neues Denken vorausgehen. Die veränderten ökonomischen und politischen Bedingungen in der Welt von heute mit ihren zwingenden Geboten (in der Ökonomie und Ökologie, nicht zuletzt auch angesichts der atomaren Gefahren) bieten dafür sogar reale Chancen. Sie gebieten geradezu neues Denken.
Nachdem sozialistische Dogmen einer zentralen staatlichen Planwirtschaft seit zwei Jahrzehnten weltweit aufgegeben sind, gilt es nun, auch auf den liberalen Glaubenssatz zu verzichten, der vom Markt regulierte, sich an der Vermehrung von Geld messende Eigennutz privater Produzenten müsse für immer als angeblich wichtigste Voraussetzung das prägende Moment einer effektiven Wirtschaftsordnung sein. Solch ein Umdenken bedeutet einen ungeheuer schweren Schritt für diejenigen, die nie lernten, anders zu denken als in den Begriffen der überkommenen westlichen Wirtschaftsordnung. Schon die Fragestellung ist ihnen wohl verdächtig: Wie viel Privates gibt es heute in der Wirtschaft heute tatsächlich noch? Und: Muß man staatlich sanktionierten Rechten Einzelner im Interesse der Allgemeinheit durch Gesetze, Auflagen und Vorschriften nicht vielleicht weitere, engere Grenzen setzen?
Solche Fragen sind wieder stark in der Diskussion. Aber eben nicht bei den „Eliten“ in Wissenschaft, Politik und Wirtschaft, sondern in einem breiten Netzwerk von Basisbewegungen für eine andere, bessere, „antikapitalistische“ Welt, für eine „solidarische“ Ökonomie. Hier wird mit großem Engagement nach Wegen aus der facettenreichen, weltweiten gesellschaftlichen Krise der Gegenwart gesucht. Und die zuständige Wissenschaft steht abseits, unfähig, liebgewordene Denkschemata zu verlassen, aber immer bereit, Andersdenkende zu verketzern. Denn auch das gehört zu den Gewohnheiten im Denken.
Natürlich reihte sich auch das Attac-Bankentribunal sowohl mit seinem Urteilsspruch als auch mit seinen Schlußfolgerungen und Forderungen in diese Bewegung zur Demokratisierung von Wirtschaft und Finanzwesen ein. Dies aber eben mit dem Manko, die tiefer liegenden Ursachen und die Verantwortung der Wirtschaftswissenschaft für das allgemeine Theorie- und Bewußtseinsdefizit dieser Gesellschaft von ihren eigenen ökonomischen Verhältnissen nicht klar genug offengelegt zu haben. Wie auch, wenn diese Verhältnisse in ihrer juristischen Darstellung, also beispielsweise das Private im Finanzbereich, gar nicht infrage gestellt werden, etwa mit der Feststellung: „Geld ist ein öffentliches Gut und Geldschöpfung eine öffentliche Aufgabe. Soweit private Banken diese Aufgabe übernehmen, handeln sie in öffentlicher Verantwortung.“ Es sind die überkommenen (bürgerlichen) Vorstellungen von Geld, „Geldschöpfung“ (durch Private) und so weiter, eben die versteinerten Lehren bürgerlicher Geldtheoretiker auf die sich auch die Banker in ihrer „Kreativität“ berufen – weit davon entfernt, Geld als eine Bestätigung für geleistete gesellschaftliche Arbeit, also als erarbeitete Anspruchsberechtigung auf Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum zu verstehen und anzuerkennen.
Zu fragen ist: Kann sich an den versteinerten Vorstellungen, an diesem Denken etwas ändern? Wenigstens nicht dadurch, daß Personen „verurteilt“ und möglicherweise ausgetauscht werden! Vielleicht sollte man sich neuester Erkenntnisse der modernen Hirnforschung erinnern. Die besagen nämlich, daß unserem bewussten Denken unbewußte Operationen im Gehirn voraus gehen. Es ist wohl eine unbewußte Verarbeitung bereits gespeicherter und auch aktueller Informationen gemeint. Und nun halte ich es für nicht unwahrscheinlich, daß bestimmte Informationen besonders prägend sind für die Leistung, also das Ergebnis unseres Biocomputers. Dazu würde ich beispielsweise genetische Anlagen oder auch quasitraumatische Erfahrungen, nicht zuletzt auch eingebläute „unumstößliche Wahrheiten“ und Tabus zählen. Andererseits: Je schwächer die Wirkungsunterschiede verschiedener Informationen und je trainierter unser Gehirn in ihrer vielfältigen Verknüpfung und Verarbeitung ist, umso offener und überraschender ist möglicherweise das Ergebnis, das heißt die Fähigkeit zu neuem Denken. Von solchen Überlegungen und von meinen Beobachtungen ausgehend komme ich somit zu der sehr vorsichtig optimistischen Erwartung, daß bei genügend großem „Informationsdruck“ der Realität (von Krisen und Desastern) aus unbewußt richtigem Reagieren in Wirtschaft und Politik – wenn auch in sehr kleinen Schritten – allmählich auch ein neues theoretisches Bewußtsein dieser Gesellschaft von ihrer Ökonomik, überhaupt von ihren gesellschaftlichen Bedingungen erwächst. Und dies umso schneller, je rascher eine junge Generation zum Zuge kommt, die nicht mehr durch ideologische Scheuklappen, prägende „Altinformationsvorgaben“ am Erkennen und an der richtigen Deutung der Realität gehindert wird.
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