13. Jahrgang | Nummer 7 | 12. April 2010

Karpfens Tod

von Ulrike Steglich

Der Mann war auf wundersame Weise übrig geblieben. Man mußte nicht Soziologie studiert haben, um das zu wissen.

Er stand vor dem Karpfenbecken und sah auf die schwimmenden Fische. Man sah dem Mann an, daß er ein schweres Leben hatte, und das meiste davon schon hinter sich. Er hatte ein rötliches Gesicht. Sein Mantel hatte wie sein Besitzer schon bessere Zeiten gesehen. Nun stand der Mann im abgeschabten Mantel vor dem Frischfischbecken im Supermarkt und schaute dem Verkäufer zu, der mit dem Kescher nach einem fetten Karpfen angelte.

Hinter ihm stand ein anderer Mann, ungefähr halb so alt. Sein Gesicht war blaß wie frischer Teig und etwas feist. Er trug eine Brille und längere Haare, beides im Intellektuellen-Look. Er beobachtete den Mann beim Fischkauf und machte sich nicht die geringste Mühe, sein Starren zu verbergen. Vielleicht rechnete er nicht damit, selbst beobachtet zu werden. Der Mann stand da und glotzte hemmungslos. In seinem Gesicht las man eine Mischung aus Ekel, Anwiderung, Faszination und Überlegenheit.

Der starrende Mann wußte vermutlich nichts davon, daß es noch vor zehn, zwanzig Jahren regelmäßig zu Ostern und zu Silvester lange Schlangen vor dem Karpfenbecken gegeben hatte. Damals war das Viertel ein Arbeiterquartier gewesen, mit maroden Altbauwohnungen, Ofenheizungen und Klos auf halber Treppe, man teilte sich das mit dem Nachbarn. Die alte Markthalle beherbergte eine HO-Kaufhalle und mehrere Verkaufsstände: einen Kurzwarenstand, einen Softeisstand und eben den Fischladen, der schon auf gewisse Weise legendär war. Ein frisch geschlagener Karpfen an Feiertagen gehörte zum Luxusverständnis. Dafür standen die Leute Schlange.

Inzwischen sind die Altbauten grellbunt saniert und teuer, die alten 3A’s (Arbeiter, Alleinerziehende, Arbeitslose) wurden von den neuen 3A’s abgelöst: Ärzte, Architekten, Anwälte. Spätgebärende und Handyeltern auf vollen Spielplätzen. In den Erdgeschoßläden brüten jetzt angestrengt wirkende Projektarbeiter über ihren Laptops. Selbst der Puff in der Brunnenstraße verschwand, in dessen Räumen zog eine Elterninitiativ-Kita ein.

Auch in die Ackerhalle war nach der Wende der Westen eingezogen: Die einstige Kaufhalle hieß nun Supermarkt, die kleinen Verkäufer verschwanden. Parallel zur sich verändernden Bevölkerung nobilitierte sich das Warenangebot: Biokäse, Tofuschnitzel, Hummer. In der Fischtheke im Supermarkt lagen edle Doraden neben Lachs und Jakobsmuscheln auf Eis. Außerdem war der Fischstand plötzlich von Wasserplätschern beschallt, was wohl Meeresrauschen suggerieren sollte. Meine Freundin fand diese Neuerung so faszinierend, daß sie – unverblümt wie immer – den Fischverkäufer fragte, ob er bei diesem permanenten Plätschern nicht ständig pinkeln müsse.

Das Karpfenbecken, an dem sich meine Jungs gern die Nasen platt gedrückt hatten, blieb. Nur die Karpfenschlangen wurden allmählich immer kürzer. Am Gründonnerstag stand lediglich dieser eine alte Mann vor dem Becken. Der Fischverkäufer angelte mit dem Kescher einen Karpfen heraus und legte ihn auf den Tisch. Der Karpfen zappelte. Der Fischverkäufer hieb mit der Keule kurz und kräftig auf den Fischkopf, es klatschte laut. Der Karpfen hörte auf zu zappeln. Der alte Mann blickte andächtig zu. „Ausnehmen?“, fragte der Verkäufer. Der alte Mann nickte.

Der jüngere Mann hinter ihm sah auch zu. Er ging nicht weg. Er starrte demonstrativ. Sein Gesicht sagte, daß er seinen Ekel bis zum bitteren Ende auskosten wollte. Er blieb, bis der Karpfen erschlagen war. Dann drehte er empört sein Wägelchen herum. In seiner Welt erschlug man keine wehrlosen, zappelnden Fische.

Er hatte Sushi eingepackt.