von Martin Nicklaus
„Unterm Strich zähl’ ich“, erzählen Reklamemodels, die für eine Branche werben, bei der die Umworbenen unter den Decknamen „Kunde“ lediglich in der Rolle der fetten Beute Existenzrecht genießen und, nach Verjubeln ihrer Geldanlagen als Steuerzahler erneut bluten dürfen.
Derart eingebunden ins gesellschaftliche Wirken als Angeschmierter bietet die flimmernde Fluchtindustrie die schöne Phantasie, sich – wir wechseln die Werbung – von Pur „Endlich ich“ blödgesungen, mittels Bier den Rest zu geben. Besser ins Bild passen eigentlich Bands wie Ichfunktion, Das Ich, Ich + Ich oder der Solist Heinz Rudolf Kunze: „Ich seh’ mich auf der Straße und bin begeistert … dann streichle ich mich sanft und schließlich schlafe ich mit mir“, wiewohl man diesem Barden immerhin Ironie unterstellen kann.
Zur Ikone der Ich-Konzentrierten avanciert unweigerlich Franz Beckenbauer, dessen erstem literarischen Wurf: „Einer wie ich“, bald das pointiertere Hauptwerk: „Ich“ folgte. Beckenbauer, bemerkt er bei Anderen geringsten Erscheinungen von Altruismus, zeigt aufrichtiges, tiefes Unverständnis darüber, wie jemand, ohne expliziten Nutzen für sich selbst handeln kann. Bei solcher Weltsicht gehen jeder Gemeinsinn, jede Solidarität, das Verständnis für den Sozialstaat sowie die Zahlung von Steuern verloren, weshalb der Kaiser fiskalisches Asyl in Sissis Heimat suchte. Andere deutsche Spitzenverdiener fanden Unterschlupf bei den Eidgenossen oder verstecken ihr Kapital in Liechtenstein oder Luxemburg. BlasenphiloSophist und Egomantiker Sloterdijk leistet, wohlgemästet durch Steuergelder, wortschwallend Fluchthilfe. Mit einem wenig inspirierten Traktat gegen den „kleptokratischen Staat“, fieberphantasiert er gar von einer „Revolution der gebenden Hand“, bei der „Transfermassengeber“ Zahlungen beim Finanzamt einstellen und nur noch – die Dritte Säule des Islam läßt grüßen – nach Gutdünken Spenden verteilen.
Diese von einem Sinn zur Realität, mit ihrem Trend zur „Eigenverantwortung“, kaum gestreifte Vorstellung widerlegt bereits der Name Zumwinkel. Wie jener verzichten etliche Bundesbürger, ohne sich der Mühe einer Auswanderung zu unterziehen, auf die finanzierende Teilhabe an der Gemeinschaft. 30 bis 40 Milliarden, andere schätzte 100 Milliarden Euro, gehen dem Bund jährlich durch Hinterziehung von Steuern verloren. Im Vorteil sind dabei klar jene, denen die Abgaben nicht gleich vom Lohn einbehalten werden und deren Einkommen Steuerfluchthilfe für Banken lukrativ macht. Mal abgesehen von den verschiedenen „Steuerminderungsmodellen“ die die Eigentümer von Bertelsmann oder IKEA nutzen.
Für das dem Gemeinwesen vorenthaltene Geld bietet sich eine Spitzenanlagemöglichkeit: Staatsanleihen. Jährlich zahlt Deutschland über 40 Milliarden Schuldentilgung. Dieser Transferposten an die Wohlhabenden im Bundeshaushalt von 2009 war größer als der für die Arbeitslosenhilfe. Entgegen aller Propaganda plündern Reiche den Staat. Seit Jahren läuft eine gravierende Umverteilung von unten nach oben. Krassestes Beispiel: Senkung des Spitzensteuersatzes, gegenfinanziert durch die gleichzeitige Senkung der Arbeitslosenhilfe. Multimilliardär Schlecker, ganz konzentriert auf eigenen Nutzen, entläßt seine Mitarbeiter und stellt sie später als Leiharbeiten mit so geringem Stundenlohn wieder ein, daß dieser durch Steuermittel aufgestockt werden muß. Soziale Einrichtungen schließen oder schrumpfen, ein Golfplatz bekommt Millionen, Banken Milliarden hinterhergeworfen.
Nur wem in diesem Land das Geld fehlt, sich eine Partei zu kaufen oder wenigstens einen Politiker, läuft, ganz unabhängig von seiner Leistungsbereitschaft, Gefahr, in den HartzIV-Topf zu fallen. Plumpe politische Ausrichtung auf den Niedriglohnsektor hat diesen krebsgeschwürartig wuchern und Lebensunterhalt sichernde Arbeitsplätze vernichten lassen. Auf sechs Suchende kommt ein Job, fünf Millionen davon fehlen. Jährlich steigt die Zahl der Armen, derzeit auf 11,5 Millionen. Arm geboren, arm geblieben. Reiche wurden bereits reich geboren gilt in Deutschland, mehr als in der restlichen entwickelten Welt. In der Verdrängung dieser Wahrheiten, die dem Ich wenig zuträglich sind, weil sie die Abstiegsangst fördern sowie die Hoffnung auf ein selbstbestimmtes Leben konterkariert, besteht die psychosoziale Hauptleistung der Millionen „Kunden“.
Da soll kein Lafontaine daherkommen und all das zur Sprache bringen?! Dann jedenfalls sind die Reaktionen an Hysterie kaum zu überbieten. Warum können sie ihn, bei seiner relativen Einflußlosigkeit, nicht einfach links liegen lassen? Weil die allweil waltende Verdrängung der Abstiegsängste und auch die Feigheit gegenüber den steuergeldplündernden Bankster nicht gestört werden darf.
Zum Frustabbau dienen Hartz-IV-Empfänger als Bepöblungsmasse: Faul, fett, blöd und natürlich selber schuld. Spektakulär entlud sich diesbezüglich der, unter anderem von einer Steuerfluchthilfe leistenden Bank geschmierte, Vorsitzende der Förderer deutscher Plutokratie (FDP), dabei nachweisend, von Geschichte, Ethik, Volkswirtschaft, Anstand und Rechnen gleichwenig zu verstehen. Man hatte die bildungsferne Schicht irgendwie in anderem Gewand erwartet. Ganz nebenbei stehen „diesem, unserem Land“ derzeit mit Merkel und Wellenreiter Guido zwei Kinderlose vor. Eine bei Machtmenschen viel zu wenig gewürdigte Form unsozialer Egozentrik. Parolen von Eigenverantwortung, Eigeninitiative, Selbstvorsorge, Wettbewerb, Sozialabbau und schlanker Staat fallen da, ungeachtet eigener Vollkaskomentalität, natürlich leichter.
Armen-Bashing ist derzeit besonders en Vouge mit einem Schuß Rassismus, der bei den Herren Sarrazin oder di Lorenzo von der Zeit natürlich wirkt, wie die Aufarbeitung eines ins Unterbewußtsein verdrängter Minderwertigkeitskomplexes hinsichtlich der Herkunft ihrer Vorfahren.
Sie attackieren die Schwachen, beschweigen aber die wohlsituierten Staatsplünderer, huldigen so einer Art Herrenmenschentum. Solche rechtsgerichteten Bewegungen fußen traditionell auf radikalem Vorgehen gegen Wehrlose und Minoritäten, bei gleichzeitigem Kuschen gegenüber wahrhaft Mächtigen, der Hochfinanz. Zur Bewegung nach rechts paßt Graf Nayhaus, seines Zeichens Bild-Kolumnist und, das sollte sich eigentlich ausschließen, Bundesverdienstkreuzträger 1. Klasse, Bemerkung: „Die Erziehung in der Napola hat mir später in der freien Markwirtschaft geholfen, mich durchzusetzen.“ Was die Nazis ihren Zöglinge auf der Eliteschule predigten, war eine Kombination aus Untertanengeist und Großmannssucht, die sie glauben ließ, die Größten zu sein. Sich durchsetzten, darin besteht das einzige Projekt der Ichmenschen. Genau deshalb setzen jene Egonauten, die durch ihre Macht, ihr Geld und ihre Dreistigkeit die Puppen tanzen lassen, sich wegen ihres Reichtums einen armen Staat leisten können und durch keine Gewerkschaften, Betriebsräte, Bürgerbewegungen, sozialen Parteien oder gar demokratische Willenskundgebungen belästigt sehen wollen, mittels zahlloser medialer Huren und Mietprofessoren den Wahn vom Ich und damit den Kurs in eine kalte Welt durch. Und die Millionen „Kunden“ vorm Fernseher begreifen kaum, wie sie sich durch VerIchung selbst den Boden entziehen. Sie hoffen statt dessen, von Ungemach verschont, mit einem superschicken Angebot der Bank auf den Hauptgewinn. Verloren geht derweil jeder Zusammenhalt, nicht weniger als soziale Kultur also, und so sind sie nicht die Herren ihrer Tage, sondern nur, und auch dazu gibt es einen Gesang: „Allein, allein. Allein, allein.“
Schlagwörter: Angela Merkel, Armut, Egoismus, Guido Westerwelle, Martin Nicklaus