von Uri Avnery, Tel Aviv
Ich traf vor zwei Wochen Salam Fayad, den palästinensischen Ministerpräsidenten, und war wieder beeindruckt von der Ruhe und Bescheidenheit, die von ihm ausgehen. Wir erschienen gemeinsam am „Tag des Bodens“ in einem kleinen Dorf nahe Qalqilya, dessen Name nur wenigen bekannt ist: Izbat-al-Tabib. Das Dorf entstand 1920, und die Besatzungsbehörden erkennen seine Existenz nicht an. Sie wollen es zerstören. Wir waren umgeben von einer großen Gruppe respektabler Persönlichkeiten und Dorfbewohnern. Ich bat ihn dringend, die Zusammenarbeit zwischen der palästinensischen Führung und dem israelischen Friedenslager zu stärken.
Es ist unmöglich, Fayad nicht zu mögen. Er strahlt Anständigkeit und ein Gefühl für Verantwortlichkeit aus. Er fordert Vertrauen heraus. Nicht der geringste Verdacht von Korruption klebt an ihm. Erst nach langem Zögern schloß er sich einer kleinen Partei an („der dritte Weg“). Er sieht aus wie ein Bankmanager – und genau das war er tatsächlich: ein ranghoher Beamter der Weltbank. Der 58jährige Fayad ist genau das Gegenteil von Yasser Arafat, der ihn zuerst zum Finanzminister ernannte. Arafat war extrovertiert, Fayad ist introvertiert. Arafat war ein Mann dramatischer Gesten. Fayad weiß nicht, was eine Geste ist.
Aber der größte Unterschied zwischen den beiden liegt in ihren Methoden. Arafat legte nicht alle seine Eier in einen Korb – er hatte viele Körbe. Er war bereit – gleichzeitig oder nach einander – Diplomatie und den bewaffneten Kampf, populäre Aktion und geheime Kanäle, moderate und radikale Gruppen zu nutzen. Er glaubte, daß das palästinensische Volk viel zu schwach wäre, auf eines der Instrumente zu verzichten. Fayad andrerseits legt alle seine Eier in einen Korb. Er wählte eine einzige Strategie und hält an ihr fest. Dies ist ein persönliches und nationales Wagnis – und tatsächlich kühn und gefährlich.
Fayad glaubt anscheinend, daß die Palästinenser nur durch gewaltfreie Mittel in enger Zusammenarbeit mit den USA eine Chance haben, ihr nationales Ziel zu erreichen Sein Plan ist, die palästinensischen nationalen Institutionen aufzubauen, eine robuste wirtschaftliche Basis zu schaffen und Ende 2011, den Staat Palästina auszurufen. Das erinnert an die klassische zionistische Strategie unter David Ben-Gurion. In zionistischer Redeweise wurde dies „vor Ort Fakten schaffen“ genannt.
Fayads Plan gründet sich auf die Voraussetzung, daß die USA den palästinensischen Staat anerkennen und Israel die wohlbekannten Friedensbedingungen auferlegen werden: zwei Staaten, zurück zu den 1967er-Grenzen mit kleinem und mit einander abgestimmtem Landtausch, Ost-Jerusalem wird die Hauptstadt Palästinas, Evakuierung der Siedlungen, die nicht in den Landtausch mit eingeschlossen sind, die Rückkehr von einer symbolischen Anzahl von Flüchtlingen in das israelische Gebiet und die Ansiedlung der anderen in Palästina oder sonst wo. Das sieht wie eine vernünftige Strategie aus, aber es stellen sich viele Fragen.
Die erste Frage: Können sich die Palästinenser wirklich auf die USA verlassen?
In den letzten paar Wochen sind die Chancen dafür besser geworden. Nach seinem eindrucksvollen Sieg in der Innen- und Außenpolitik zeigte Präsident Obama neues Selbstvertrauen – auch bei der israelisch-palästinensischen Frage. Er könnte jetzt bereit sein, beiden Parteien einen amerikanischen Friedensplan aufzuerlegen, der diese Elemente einschließt. Aber die entscheidende Schlacht ist noch nicht ausgefochten. Man kann eine Schlacht der Titanen zwischen den beiden mächtigsten Lobbys in Washington erwarten: die militärische und die Pro-Israel-Lobby. Das Weiße Haus gegen den Kongress. Fayads Wagnis gründet sich auf die Hoffnung, daß Barack Obama diesen Kampf mit Hilfe von General David Petraeus gewinnen wird.
Die zweite Frage: ist es möglich, einen palästinensischen „Staat im Werden“ unter israelischer Besatzung aufzubauen?
Wie es jetzt aussieht, hat Fayad Erfolg. Tatsächlich gibt es einigen Wohlstand in der Westbank, von dem jedoch hauptsächlich eine bestimmte Klasse profitiert. Die Netanyahu-Regierung unterstützt diese Bemühung in der Illusion, daß „wirtschaftlicher Friede“ als Ersatz für wirklichen Frieden dienen kann. Aber all diese Bemühungen stehen auf tönernen Füßen. Die Besatzungsbehörden können sie mit einem Streich auslöschen. Wir waren im Mai 2002 bei der Operation „Defensive Wall“ Zeugen davon, als die israelische Armee mit einem Streich alles zerstörte, was die Palästinenser nach dem Oslo-Abkommen aufgebaut hatten. Wenn die israelische Regierung so entscheidet, gehen alle geordneten Regierungsbüros von Fayad, all die neuen Unternehmungen und die wirtschaftlichen Initiativen in Rauch auf. Fayad verläßt sich auf das amerikanische Sicherheitsnetz. Und tatsächlich ist es fraglich, ob Nethanyahu 2010 in der Obama-Ära das tun kann, was Sharon 2002 unter George W. Bush getan hat. Eine wichtige Komponente der neuen Situation ist „Dayton’s Armee“. Der US-General Keith Dayton trainiert die palästinensischen Sicherheitskräfte. Jeder, der sie gesehen hat, versteht, daß dies in der Praxis eine reguläre Armee ist.
Die dritte Frage: Was wird geschehen, falls die Palästinenser ihren Staat Ende 2011 ausrufen?
Viele Palästinenser sind skeptisch. Schließlich hat der Palästinensische Nationalrat schon 1988 einen unabhängigen palästinensischen Staat ausgerufen. Bei dieser festlichen Gelegenheit wurde die palästinensische Unabhängigkeitserklärung, von dem Dichter Mahmoud Darwish verfaßt, vorgelesen. Dutzende von Staaten erkannten diesen Staat an, und die PLO-Vertreter erfreuten sich dort des offiziellen Status’ eines Botschafters. Aber hat dies die Situation der Palästinenser verbessert? Wenn Fayads Hoffnung sich erfüllt und die USA den Staat Palästina anerkennt, wird sich die palästinensische Situation dramatisch ändern. Ziemlich sicher wird die israelische Regierung keine andere Wahl haben, als das Friedensabkommen zu unterzeichnen, das praktisch von den Amerikanern diktiert werden wird. Israel wird fast die ganze Westbank aufgeben müssen.
Die vierte Frage: wird dies auch für Gaza gültig sein?
Wahrscheinlich ja. Im Gegensatz zum dämonischen Image, das von der israelischen und amerikanischen Propaganda geschaffen wurde, wünscht Hamas einen palästinensischen Staat, nicht ein islamisches Emirat. Die offizielle Position von Hamas ist, daß sie ein Abkommen akzeptieren wird, das von der palästinensischen Behörde unterzeichnet wurde, wenn es in einem Referendum vom palästinensischen Volk oder in einem Akt des Parlamentes ratifiziert würde. Es sollte sogar jetzt bemerkt werden, daß Hamas das Fayad-Experiment mit relativer Nachsicht behandelt.
Fayad ist ein Mann des Kompromisses. Er würde mit der Hamas einen modus vivendi schon längst erreicht haben, wenn die USA nicht ein totales Veto auferlegt hätten. Die palästinensische Teilung ist zu einem großen Teil „made in“ den USA und Israel. Israel hat dazu beigetragen, daß der physische Kontakt zwischen der Westbank und dem Gazastreifen völlig unterbrochen ist – eine grobe Verletzung des Oslo-Abkommens, die die Westbank und den Gazastreifen als ein zusammengehöriges Gebiet definiert. Israel verpflichtete sich, vier „sichere Passagen“ zwischen den beiden Gebieten zu eröffnen. Sie waren nicht einen einzigen Tag geöffnet.
Was wird geschehen, wenn sich Fayads Wagnis als historischer Fehler herausstellt? Wenn die Pro-Israel-Lobby gegen den Staatsmann und die Generäle gewinnt? Oder wenn irgendeine Weltkrise die Aufmerksamkeit des Weißen Hauses in eine andere Richtung lenken wird? Wenn Fayad scheitert, wird jeder Palästinenser die offensichtliche Schlussfolgerung ziehen: es gibt keinerlei Chance für eine friedliche Lösung. Eine blutige Intifada wird folgen, die Hamas wird die Kontrolle über das palästinensische Volk übernehmen – und auch diese wird von viel radikaleren Kräften verdrängt werden.
Salam Fayad kann tatsächlich sagen: Nach mir die Sintflut.
Aus dem Englischen von Ellen Rohlfs, redaktionell gekürzt
Schlagwörter: Israel, Palästina, Salam Fayad, Uri Avnery