von Kai Agthe
Die Vorstellung, in einem zivilisierten Land – das Mitglied der Europäischen Union werden möchte – mit Verfolgung rechnen zu müssen, weil man eine historische Wahrheit ausspricht, ist einigermaßen gruselig. Geschehen kann das noch immer in Türkei, wenn man öffentlich die zeitgeschichtlich beglaubigte Meinung artikuliert, daß die Türken 1915 einen Völkermord an den Armeniern begingen, dem nach vorsichtigen Schätzungen von Historikern zwischen 600 000 und 800 000 Menschen zum Opfer fielen. Wer diese Haltung vertritt, läuft – nach Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuches – auch 2010 Gefahr, „wegen Verunglimpfung der türkischen Nation“ strafrechtlich verfolgt zu werden. Noch am 13. April 2005 erklärte Ministerpräsident Erdogan im Parlament, in der Türkei gebe es kein Kapitel, „dessen wir uns schämen, das wir verdrängen, vergessen oder vertuschen müssen“. Die Gretchenfrage am Bosporus müsste aber lauten: Wie hältst du es mit dem Völkermord an den Armeniern?
Sibylle Thelen will nach eigenem Bekunden mit ihrem Essay „Die Armenierfrage in der Türkei“ „nicht anklagen, schon gar nicht verurteilen“, für die bestehenden „Befindlichkeiten“ sensibilisieren und somit einen Beitrag leisten, damit diese „Befindlichkeiten überwunden werden können“. Wie brisant die Frage ist, zeigt sich schon im Vorwort. Denn dieses richtet sich explizit an „meine deutschen, türkischen, armenischen, kurdischen Leser“. Die Autorin, die Turkologie studierte und als Journalistin bei der Stuttgarter Zeitung tätig ist, weiß, daß die Beschäftigung mit diesem Teil der türkischen Geschichte Fingerspitzengefühl erfordert.
Obwohl sich die Diskussion in den letzten Jahren versachlicht hat, kann die Erinnerung an die Massenvertreibung und -vernichtung der Armenier durch die Türken gefährlich sein. Thelen erinnert an den Journalisten Hrant Dink, der für seinen Versuch, dieses Tabu zu brechen, mit dem Leben bezahlen mußte. Ein aufgehetzter Siebzehnjähriger ermordete ihn am 19. Januar 2007 auf offener Straße. Wo es das nicht ist, können kritische Äußerungen, wie im Fall des Schriftstellers Orhan Pamuk und seiner Kollegin Eli Shafak, zu Strafverfolgung führen.
In Kreisen der Historiker wird diskutiert, ob die Deportationen gezielt auf die Vernichtung ausgerichtet waren. „Einen offiziellen Vernichtungs- oder gar Tötungsbefehl hat bisher kein Historiker nachweisen können“, so Thelen. Das aber ist nicht ungewöhnlich, hat es doch auch später in Nazi-Deutschland keinen schriftlich fixierten Befehl zur industriellen Tötung der europäischen Juden gegeben. Dennoch hat sie stattgefunden. Daraus resultiert eine weitere Frage: Ist der Massenmord an den Armeniern mit der Vernichtung jüdischen Lebens durch die Nazis zu vergleichen? Sibylle Thelen zitiert den Historiker Hans-Lukas Kieser: „Es war noch keine ,Industrie‘ wie Auschwitz, wohl aber eine durchorganisierte ,Manufaktur des Todes‘.“
Mit Hinweis auf die Rede, die Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985, zum 40. Jahrestag der Befreiung von der Hitler-Diktatur, hielt, erinnert Thelen daran, daß es auch in der Bundesrepublik ein langer Weg war, bis man sich zu den Verbrechen der Nazi-Diktatur bekannte. Es ist nun aber an der Zeit, daß ein ähnliches Denken auch in der Türkei in Bezug auf die Verbrechen gegen die Armenier einsetzt. Denn, so Thelen: „Eine Türkei, die sich nicht unter dem Schatten ihrer Geschichte wegduckt und den selbstauferlegten Zwang zur Verdrängung abschüttelt, würde ihren politischen Spielraum erweitern.“ Und das nicht allein mit Blick auf den von der Türkei angestrebten Beitritt in die Europäische Union.
Sibylle Thelen: Die Armenierfrage in der Türkei, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2010, 92 Seiten, 9,90 Euro
Schlagwörter: Armenien, Eli Shafak, Kai Agthe, Orhan Pamuk, Recep Tayyip Erdoğan, Richard von Weizsäcker, Sibylle Thelen, Türkei