von Liesel Markowski
Vier Stunden Händel und keine Minute Langeweile. Trotz fast Wagnerscher Zeitdimension war in Berlins Staatsoper erfrischendes Musiktheater zu erleben: „Agrippina“, Dramma per musica, 1709 in Venedig überaus erfolgreich uraufgeführt. Das begeisterte Publikum dort feierte Händel mit dem Zuruf „Viva il caro Sassone“. 27 Vorstellungen folgten der Premiere. Nun hatte das Haus unter den Linden erneut René Jacobs, bewährter Spezialist für historische Oper, eingeladen, der mit einem exquisiten Sängerensemble und der Akademie für Alte Musik Berlin diese faszinierende Aufführung im Einklang mit der Szene des Regisseurs Vincent Boussard zustande brachte.
Händels Frühwerk, Produkt aus seinem mehrjährigen Italienaufenthalt, ist ein Intrigenstück, das Zustände im alten Rom zur Zeit des Kaisers Claudius kritisch aufs Korn nimmt. Librettist Vincenzo Grimani, kaiserlicher Botschafter beim heiligen Stuhl, zielte mit dem Stoff über die moralische Verkommenheit im Reich des antiken Herrschers auf damalige Zustände der Herrschaft des Papstes (Clement XI.) Es geht um ein verwickeltes Für- und Gegeneinander der Figuren um Macht und persönlichen Vorteil. Heuchelei und Skrupellosigkeit bestimmen das Handeln der Protagonisten. Dominierend Kaiserin Agrippina, die ihren vorehehlichen Sohn Nerone, ein verlogenes Muttersöhnchen, auf den Thron bringen will. Kaiser Claudio, ein eitler reizbarer Dummkopf. Poppea, eine hinterhältige, verführerische Schönheit. Ottone, der – als einziger ehrlich – für die Liebe zu Poppea auf den Thron verzichtet. Sie alle sind historische Personen.
Dieses Libretto, als einziges für Händel geschrieben, bezeichnet René Jacobs als das beste von diesem vertonte. Die Geschichte von und um Agrippina ist für ihn (Jacobs) eine spannende politische Satire über Macht und deren Mißbrauch. Parallelen zu unserer Gegenwart bieten sich an, zumal Händel das „ Dramma serio“ mit amüsantem Buffa-Flair ausgestattet hat, was sofort überspringt. Und die von René Jacobs nach dem Autograph erarbeitete Neufassung setzt Lockerheit und Tempo des vom Komponisten praktizierten italienischen Stils frei.
Das Ergebnis wirkte fesselnd in jeder Hinsicht. Musikalisch schon überraschend, da die Meisterschaft des jungen Händel so prägnant zur Geltung kam. Man dachte immer wieder an Mozarts Charakterisierungskunst, die hier vielleicht Vorbilder gefunden hat. Da sind die abwechslungsreich instrumentierten Rezitative, in denen Streit und Widerspruch ausgetragen oder leicht scherzend kommuniziert wird. Da sind Arien voller Gefühlsstärke, die Figuren charakterisieren und sich nicht wie in üblichen Serias in ewigen Dacapos erschöpfen, sondern Duett, Trio, Quartett und Liedhaftes einbeziehen. Die Musik ist in Melodik, Harmonik und Rhythmus vielseitig den Personen entsprechend differenziert.
Wunderbar, daß sich die Inszenierung von Vincent Boussard völlig auf den Geist der Musik eingestellt hat. Keine aktuell sein wollenden Regie-Mätzchen. Raum für gesangliche Entfaltung und komödiantischen Witz. Alles ist platziert auf der requisitenfreien (leeren) Bühne (Vincent Lemaire), gefüllt nur mit zarten Per- lenschnüren, die im Lichtdesign (Guido Levi) zauberhaft golden oder silber glänzen. Ein durchsichtiger Laufsteg vor dem Orchestergraben als ergänzende Spielebene. Die Kostüme des Franzosen Christian Lacroix präsentierten, wie medial angekündigt keinesfalls Mode, sondern hoben – sehr schön – ins Ganze integriert jeweils Typisches der Figuren hervor.
So verkörperte Claudio in Pluderhosen und weißem Tellerkragen, Hofkleidung im 17. Jahrhundert, den Herrscher, komisch akzentuiert, auch durch den Baßgesang von Marcos Fink, während Agrippina im modernen schwarzen Kostüm energisch agierte und perfekt sang (Alexandra Pendatschanska, Sopran). Poppea, in traumhaftem Goldgewand mit heller Stimme fröhlich, sogar bis zum Walzeranklang (!) brillierend (Anna Prohaska, Sopran), Nerone stimmüppig (Jennifer Rivera, Alt) und Ottone , ein strahlender Counter (Bejun Mehta). Alle Hauptfiguren. Zur vokalen Attraktion kam das großartige, auch improvisatorische, Spiel der Akademie für Alte Musik unter René Jacobs intensivem Dirigat. Beifallstürme.
Schlagwörter: Georg Friedrich Händel, Liesel Markowski, René Jacob, Vincent Boussard