13. Jahrgang | Nummer 2 | 1. Februar 2010

Nix is g’wiß

von Angelika Leitzke

Als der französische Maler und Grafiker Honoré Daumier 1862 sein Gemälde „Im Wagen Dritter Klasse“ (heute in der National Gallery of Canada, Ottawa) schuf, war die Eisenbahn gerade mal knapp 40 Jahre alt. Bei Daumier sitzen die Angehörige des „tiers état“, also Bauern, Kleinbürger und sogenannte „Handlungsreisende“, dicht gedrängt im einem Abteil, dessen einziger Komfort darin besteht, Ausblick auf eine weite grüne Landschaft zu haben. Den hatten die Reisenden der Deutschen Bahn über Weihnachten und in den Wochen danach nicht. Zwar befanden sich die meisten Fahrgäste nun in Wagen Zweiter Klasse, da es den dritten Stand offiziell nicht mehr gibt. Doch da die Deutsche Bahn über die Feiertage und Ferien jeden zweiten ICE auf der Hauptverkehrsader Berlin-Nürnberg-München gestrichen hatte, war jeglicher Luxus buchstäblich in den Schnee gefallen. Die Fahrgäste wurden, ob mit oder ohne Platzreservierung, in die Züge hineingestopft, als gelte es, Weihnachtsgänse zu mästen. Irgendwann gelangte man, eingekeilt zwischen Wintermänteln, Weihnachtsgeschenken und Reisegepäck, mit mehrstündiger Verspätung an sein Ziel, froh, überhaupt irgendwo angekommen zu sein. „Ein Pferd zu haben“, kommentierte ein Mitreisender das Dilemma, „wäre manchmal nicht schlecht.“

Angeblich wegen der Vereisung von ICE-Triebfahrzeugen war der Bahnverkehr gerade zum Heiligen Fest, neben Ostern die rush hour des Jahres, zusammengebrochen, obgleich die sibirische Kälte bereits wieder abgeklungen war. Das Servicepersonal hüllte sich in dezentes Schweigen und wußte wie der Fahrgast nach dem Motto Karl Valentins: „Nix is g’wiß.“

Gewiß ist nur, daß die Bahn unter ihrem Ex-Chef Hartmut Mehdorn zwar zu einem modernen High-Tec- und Logistikunternehmen emporgetrimmt wurde, dem jedoch jegliche Logik eines System fehlt – vielleicht herrscht sie in China, wohin Mehdorn das Geschäft im Schienengüterverkehr via Rußland und glanzvoller Kooperationen ausbaute. Nicht nur hat die Zugelektronik mittlerweile einen Grad an Übersteuerung erreicht, der einen von Daumiers „Wagen Dritter Klasse“ geradezu träumen läßt. Nicht nur wurde an technischem und Service-Personal eingespart, um bei glänzender Fassade dem Reisenden jenen Schein von Komfort zu bieten, der sich bei näherem Hinsehen als moderner Albtraum entpuppt – dies bei steigenden Preisen für Fahrkarten und Bahncards. Die Unverfrorenheit, mit der die Deutsche Bahn heutzutage ihren „Service“ betreibt, geht Hand in Hand mit jener Kaltschnäuzigkeit, mit der sie Profit machen will, damit die Bilanzen vor dem immer noch geplanten Börsengang stimmen.

Vor fünfzig Jahren konnte man auch in eisigen Wintern die Uhr nach der Bahn stellen: Sie fuhr. Heute herrschen Pannen, Verspätung und Leerlauf, statt personeller Information regiert die elektronische Vermittlung. Allein den telefonischen Sprachcomputer der Bahn zu bedienen, setzt beim Anrufer ein technisches Funktionieren voraus, das die Bahn bei ihrem Börsentraum offenbar verlernt hat. Daumiers „tiers état“, der noch unter Dampfantrieb durch die Lande reiste, hatte es da einfacher, wenn auch nicht schneller.

Der Franzose verbüßte 1832 wegen seiner Karikaturen zum „Bürgerkönig“ Louis-Philippe eine Haftstrafe von einem halben Jahr. Dies möchte man dem neuen Bahnchef Rüdiger Grube zwar nicht wünschen. Doch hätte man gerne gehabt, daß er im Winter einmal mit seiner Bahn Deutschland durchquert wäre – incognito. Damit seine Ausschlachtung als Weihnachtsgans durch die Mitreisenden vermieden wird.