Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 14. September 2009, Heft 19

Vom Klatschen

von Henryk Goldberg

Es ist immer so. Das ist ein Gesetz. Es hat mutmaßlich in der jüngeren deutschen Theatergeschichte noch keine Premiere gegeben, die pünktlich begann. Die Reprisen schon, da schaut der Inspizient auf die Uhr, und wenn es halb ist, oder um, dann drückt er den Knopf, und es geht los. Zur Premiere nicht. Ich habe, auch in den sieben Jahren, da ich auf der anderen Seite der Barrikade stand, es nie herausgebracht: Läßt der die Vorstellung bewußt später beginnen? Ist das so eine Art Reflex? Oder sagt ihm der Regisseur, Du, heute ist Premiere, fang mal vier Minuten später an? Gehört jedenfalls habe ich das nie. Immerhin, sie hatten in der Regel sechs Wochen Zeit. Dennoch, sie brauchen jetzt diese vier Minuten noch. Der Text ist gelernt, die Partie studiert, die Bühne eingerichtet, die Kollegen bespuckt. Ja, als Dagmar Schipanski noch Ministerin war, da hatten sie einen Grund, man beginnt schließlich nicht pünktlich, wenn die Ministerin zu spät kommt. Aber das hat sich nicht geändert, seitdem die Landtagspräsidentin gar nicht mehr kommt, und es ist auch nicht nur in Thüringen so. Als wollten sie die Spannung ertragen, bis es gar nicht mehr geht, bis die Premiere das kleinere Übel erscheint.
Auch am anderen Ende der Premiere wartet ein Gesetz. Es besagt, daß die Vorhangordnung spätestens nach dem dritten Vorhang zusammenbricht. Entweder, sie wissen nicht mehr, wer jetzt dran ist, wer von links kommt und nach rechts abgeht, oder der Vorhang fallt gerade, während sie sich zierlich verbeugen, oder er schließt sich nicht, nachdem sie sich zierlich verbeugt haben. Oder sie warten zu lange mit der letzten Verbeugung und kommen erst raus, wenn das Publikum auch schon halb raus ist. Dann lächeln das Publikum und die Künstler einander an und haben ein Verständnis, sie haben sich beide geirrt und werfen sich nichts vor.
Ich hingegen, zwischen uns soll Wahrheit sein, werfe dem Opernpublikum etwas vor: seinen Enthusiasmus, der nicht selten größer ist als sein Kunstverständnis. Das offenbart sich in der verbreiteten Unart, eine gute Operninszenierung kaputtzuklatschen. Daß man zwischen den Sätzen eines Konzertes nicht applaudiert, das hat sich herumgeredet, das ist Bildungsgut. Obgleich, manchmal fällt es ihnen bestimmt schwer. Die schöne Musik, und man muß die Hände fein stille halten. Aber wer es nicht täte, der ist blamiert, und alle blickten ihn verachtend an, Banause.
Darf ich Sie um einen klitzekleinen Gefallen bitten? Warten Sie in der Oper doch bitte mit dem Schlußapplaus, bis sich der Vorhang geschlossen, hat, oder sogar zwei, drei Sekunden länger. Das wirkt beinahe so gebildet und kultiviert wie das Schweigen zwischen den Sätzen. Probieren Sie’s mal.