von Kai Agthe
»Die Provokation des Stadtplans«, notiert Achim Hölter in dem vorliegenden Buch, »zielt darauf, einer flachen Beschreibung Tiefe zu verleihen. Diese Tiefe entsteht durch räumliche Imagination, vulgo: durch Lesen.« Deshalb kann die naheliegende Schlußfolgerung des Autors nur lauten, daß es »eine unmittelbare Verbindung von Literatur und Stadtplan« gibt. Ein exemplarischer Vertreter für das Thema »Metropolen im Maßstab – Der Stadtplan als Matrix des Erzählens« ist fraglos Uwe Johnson. Der Schöpfer des 1 800 Seiten umfassenden, vierbändigen Romans »Jahrestage«, der im New York der Jahre 1967/68 und in der Geschichte Mecklenburgs spielt, zog 1959 mit dem Manuskript »Mutmaßungen über Jakob« nach Westberlin, da keine Hoffnung bestand, die Geschichte über den Tod des Reichsbahn-Dispatchers Jakob Abs in der DDR zu veröffentlichen. Über Westberlin und das zentrale Verkehrsmittel, die von der DDR betriebene S-Bahn, hat sich Johnson in zwei Essays geäußert. Sie sind in dem schmalen Band »Berliner Sachen« (1975) nachzulesen. Penibel wie Johnson zu recherchieren pflegte, studierte er das S-BahnStreckennetz sehr genau. Nils Plath analysiert im Beitrag »Zeit/Stadt/Plan« Johnsons Berliner Stadtplan-Poetik ebenso gründlich. Ein Foto zeigt Johnson 1973 vor einer S-Bahn-Netzkarte, die er im Arbeitszimmer angebracht hatte. Der Kollege Jürgen Becker schrieb daraufhin sogar ein Gedicht auf den passionierten Karten-, Plan- und Meßtischblatt-Betrachter, das mit den Versen anhebt: »Die ganze Umgebung // Wird überschaubar in Friedenau / Auf den Meßtischblättern von Johnson.«
Figuren vor Stadtplänen zu plazieren, hat auch im Film, vor allem in Krimis, eine lange Tradition. Gleich ob der »Tatort« aus Köln oder der »Polizeiruf 110« aus Halle, stets sitzen die Kommissare mit dem Rücken vor Stadtplänen. Achim Hölter zeigt in seiner mit Bildern versehenen Analyse des Films »M – Eine Stadt sucht einen Mörder« (1931) von Fritz Lang, daß dieses Gestaltungselement bereits sehr früh in die Filmästhetik Eingang fand. Jörg Dünne wiederum kann ähnliches an Jean-Pierre Melvilles »Le Samourai« (1967) demonstrieren. Beispiele aus der bildenden Kunst zu finden, ist wohl etwas schwieriger, da nur ein solcher Beitrag in »Metropolen im Maßstab« enthalten ist: Volker Pantenburg schreibt unter dem Titel »A to Z« über den »Einsatz von Stadtplänen in der Konzeptkunst« der sechziger Jahre.
Stadtpläne und -räume spielten und spielen vor allem für Schriftsteller eine wichtige Rolle. Uwe Johnsons Roman »Jahrestage« ist ja ein Literatur gewordener Stadtplan von New York. 1929/30, drei Jahrzehnte vor dem gebürtigen Pommern war der spanische Autor Federico Garcia Lorca in der Stadt. Anke Birkenmeier stellt ihn uns als einen »surrealistischen Flaneur« vor, der, im Gegensatz zu Johnson, von Stadtplänen nicht viel hielt, wohl aber New York in dem Gedichtband »Poeta in Nueva York« (1939) ein literarisches Denkmal setzte. Porträtiert werden ferner der Franzose Michel Butor und der Peruaner Jose Maria Arguedas und deren an Stadtplänen orientiertes Schreiben. Und man kann auch von Orhan Pamuks melancholischem Blick auf Istanbul lesen. Denn Pamuk inszeniert in dem 2003 auf Deutsch erschienenen Buch »Erinnerungen an eine Stadt«, so Susanne Stemmler, sein »Leben in Form eines vergangenen, imaginären Stadtplans«, und er erzählt den »Stadtplan als Autobiographie«. »Ein Stadtplan«, so bemerkt Nils Plath am Ende seines Uwe-Johnson-Beitrags, »verzeichnet Verbindungslinien über die Zeiten.« Und kein geringeres Anliegen verfolgt auch die Literatur.
Achim Hölter, Volker Pantenburg, Susanne Stemmler (Hg.): Metropolen im Maßstab. Der Stadtplan als Matrix des Erzählens in Literatur, Film und Kunst, transcript-Verlag Bielefeld 2009, 350 Seiten, 29,80 Euro
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