von Wladislaw Hedeler
Das Kürzel »M« steht für die 1938 nach Wjatscheslaw Molotow benannte Stadt im Westural, das heutige Perm. Oleg Lejbowitsch (Jahrgang 1949), Absolvent der Historischen Fakultät der dortigen Universität, ist heute Lehrstuhlleiter für Kulturologie an der Staatlichen Technischen Universität dieser Stadt. Sein Buch handelt vom Leben in der Provinz im Spätstalinismus, in den Jahren 1947 bis 1958.
1947 traf die Regierung Festlegungen über die Nebenwirtschaften, 1958 wurden territoriale Volkswirtschaftsräte geschaffen. Diese, eine neue Epoche in der Geschichte der UdSSR einleitende Zäsur ist Lejbowitsch wichtiger als Stalins Tod 1953 oder der 20. Parteitag der KPdSU 1956.
Die Änderungen erfolgten nicht über Nacht, ihnen ging eine langwierige und hartnäckige Auseinandersetzung zwischen jenen Funktionären voraus, die die alten bolschewistischen Traditionen beschworen, und jenen, die auf die im Großen Vaterländischen Krieg gesammelten Erfahrungen verwiesen. Die daran geknüpften Wertvorstellungen und Denkmuster waren grundverschieden, auch wenn sich die Clans einer gemeinsamen Sprache bedienten. Wie der Autor an verschiedenen Beispielen in den sieben Kapiteln des Buches nachweist, erschließen sich diese Konflikte allerdings nicht, wenn jede der streitenden Parteien nur für sich genommen untersucht wird.
Im Kapitel, das den »Ort des Geschehens«, eine Hochburg der Industrialisierung vorstellt, trägt Lejbowitsch Zustandsbeschreibungen, die sich in der internen Korrespondenz der Funktionsträger finden und die tatsächliche Situation der Eliten und der Industriearbeiter hinter der propagandistischen Fassade beleuchten, zusammen. Es geht um die Arbeits- und Lebensbedingungen von zwei Millionen Menschen in einem Gebiet mit einer Ost-West-Ausdehnung von 660 und einer Nord-Süd-Ausdehnung von 328 km. Hier befanden sich 33 Arbeitersiedlungen und neun Städte. Der Anteil ehemaliger Gulaghäftlinge und Sonderumsiedler an der Bevölkerung war hoch. Von Wachsoldaten eskortierte Häftlingskolonnen auf dem Weg zur Arbeit gehörten zum Straßenbild.
Befestigte Straßen gab es in der Region kaum, im Frühjahr und Winter versanken etliche Dörfer und Siedlungen im wahrsten Sinne des Wortes im Schlamm oder Schnee. Die Lebensmittelversorgung der Arbeiter und Bergleute war miserabel, die Kindersterblichkeit und Kriminalität hoch, es mangelte an Wohnraum. Viele der vom Autor zitierten Berichte unterscheiden sich kaum von denen über die Situation in den umliegenden Gulags.
Der Autor skizziert den Verlauf der Geldreform 1947, die der Abschaffung der Lebensmittelkarten vorausging, und die daran gebundenen Versuche, den Geldumtausch zu unterlaufen, er trägt die wenigen Informationen über den Alltag der Nomenklatura in der Provinz, ihr Milieu, zusammen, schildert Versuche, Freiräume wissenschaftlicher Arbeit, in diesem Fall im medizinischen Institut, zu kontrollieren und abzuschaffen sowie die Intellektuellen durch in Moskau konzipierte und in die Regionen durchgestellte patriotische Kampagnen zu disziplinieren.
Die örtliche Parteileitung mußte zwischen den Konfliktparteien vermitteln, schlichten und Kompromißlösungen herbeiführen. Zu den neuen Spielregeln gehörte, daß mit 1937 vergleichbare Exzesse nicht zugelassen werden durften. Unter Bedingungen des Defizits und des Mangels ging es jenen gut, die über Beziehungen verfügten, andere lebten vom Schwarzhandel und Kleindiebstählen. Um dies zu unterbinden, statuierte die Miliz Exempel und führte willkürliche Hausdurchsuchungen sowie Kontrollen vor den Warenhäusern und Bäckereien durch.
Im Regelfall blieb es bei Gefängnisstrafen zwischen einem und (seltener) fünfzehn Jahren. Verurteilungen zur Höchststrafe waren die Ausnahme. Es kam vor, daß die örtlichen Eliten, entgegen den Weisungen aus Moskau keine Strafoder Parteiausschlußverfahren gegen Parteifunktionäre und Wirtschaftskader einleiteten, sondern es bei Parteistrafen beließen.
Die Clans festigten ihre Positionen vor Ort und schützten ihre Nomenklaturkader, die bei der Ausübung ihrer Tätigkeit zwangsläufig gegen irgendwelche Festlegungen verstießen – nunmehr zunehmend auch vor einer neuen Gruppe von Feinden, den einfachen Parteimitgliedern und Denunzianten. Letztere waren, weil sie sich der Logik des unter Stalin kultivierten Kampfes gegen Abweichungen bedienten, unangreifbarer. Diese Auseinandersetzung spielte sich nicht nur im Verborgenen, sondern auch auf den Seiten der Parteipresse ab. Der Apparat mußte zum Schein auf die Signale von unten eingehen und lavieren. Damit erreichte die Entartung des Apparates eine neue Qualität.
Oleg Leonidowitsch Lejbowitsch: W gorode M. Otscherki sozialnoj powsednewnosti sowetskoj prowinzii W 40-50-ch gg. (In der Stadt M. Skizzen über den Alltag in der sowjetischen Provinz in den 40/50er Jahren.) Rosspen Moskwa; Fond perwogo Presidenta Rossii B. N. Elzina, 2008, 295 Seiten
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