von Jens Knorr
Wenn man einen weißen Anzug anhat, dann gehört man zu den Reisenden der Oberklasse, schraubt sich gehetzten Blickes die Wendeltreppe hinauf in den Himmel, die hinabführt in die Hölle, oberhalb und unterhalb einer weißen Scheibe in leerem Raum, die nur von eben der Treppe durchbrochen wird. Eine Welt aber ist die Scheibe mitnichten, die von den Frauen und Männern in weißen Anzügen zwar betreten, aber wohlweislich nicht ausgeschritten wird, denn was sie zu verhandeln haben, stellt Welt nicht her.
Auf »12 musikalische Tableaux nach William Shakespeare« handelt der Berliner Komponist Christian Jost, in dieser Spielzeit Hauskomponist der Komischen Oper Berlin, den Werkkomplex »Hamlet« herunter und auf zwölf immergleiche Varianten immer derselben psychologisierenden Innenbeschau Regisseur Andreas Homoki Josts Komposition.
Sie dürfen alle ihre Angst ausstellen, die Namensträger Shakespearescher Figuren, Horatio (Tom Erik Lie), Claudius (Jens Larsen) und Gertrud (Gertrud Ottenthal), Polonius (Jürgen Sacher), Laertes (James Elliott) und Ophelia (Karolina Andersson), Rosenkranz (Caren van Oijen) und Güldenstern (Peter Renz), vor dem Oben und dem Unten und vor der sehr wendeligen Treppe – für die sie im vorhinein medizinische Tauglichkeitstests zu bestehen hatten, wie Josts selbstgefälligem »Vorgedanken zur Uraufführung« im Programmheft zu entnehmen ist –, aber auch vor den morastig schwarzgesichtigen Leuten in schwarzen Anzügen, die ab und an aus der Tiefe hervorquollen, als Geist von Hamlets Vater, Hamlets innere Stimmen und mancherlei Volk, geführt als amorphe Masse, wie sie der Vorstellung von Leuten in weißen Anzügen entsprechen mag, die im Café Dressler, Unter den Linden, sitzend, über »Volk« im allgemeinen und Unterschicht im besonderen schwadronieren.
Wenn man sich nicht innerhalb und außerhalb ungeheurer Umwälzungen der Welt, die wir gerade zu erfassen beginnen, und ihrer Bilder zu verorten weiß, dann trägt man nicht einmal mehr Frack – wie weiland in Leopold Jessners berühmter Inszenierung am Berliner Schauspielhaus 1926, aber eigentlich hat Alexander Moissi im selben Jahr am Deutschen Volkstheater in Wien damit angefangen -, dann trägt man weißen Anzug und ist Josts und Homokis Hamlet. Und wenn man Josts Gattin ist, dann bekommt man über appellierenden Schlagzeugfiguren, dunkel dräuenden Orchester-Clustern und Gedankenstimmen-Auslegware ausschweifende Kantilenen auf die Stimm geschrieben, wie sie wohl nur ihr bester Kenner zu schreiben versteht. Die deutsch-griechische Mezzosopranistin Stella Doufexis darf in der Hosenrolle des Hamlet so richtig absahnen, und man ertappt sich bei dem Wunsch, der Komponist möge die eingängigsten Stellen seiner Partitur als Tableaux für Orchester mit obligatem Sopran zweitverwerten. Derzeit geht so etwas international gut über den Ladentisch
Weil Josts und Homokis Welt bis auf einen unschönen Mord soweit eingerichtet ist, hat Hamlet auch nicht weiter schwer an ihr, sondern lediglich an ihm zu tragen sowie an dem Auftrag, ihn am Onkel und neuem Muttergatten zu rächen. Bis es so weit kommt, muß der Zuhörer und -schauer ein andauerndes, vielstimmig einfältiges Lamento überstehen, so daß ihm für dieses Mal die Tötungen und Selbsttötungen am Ende nicht als Versagen der Vernunft, sondern als erlösende Tat durchaus einleuchten. Wie immer es auch gekommen ist, was im letzten Tableaux dann endlich kommt: Es bleibt ja in der Familie. Was aber in der Familie bleibt, geht die Öffentlichkeit nicht unmittelbar etwas an und muß auch nicht öffentlich verhandelt werden, und so hat es Homoki, durchaus musikadäquat, auch inszeniert.
Homokis Familienbild erschöpft sich im Nachstellen gesprächsähnlicher Situationen, leerem Grimassieren und gestischen Verkrampfungen seiner Sänger. Was nützt es, in der Tiefe der Figuren zu wühlen, wenn man doch nichts anderes an die Oberfläche bringt als wieder nur ihre Oberfläche? Wenigstens gereicht es uns Massemenschen in den schwarzen Anzügen zu Schadenfreude, die Familienbande in den weißen Anzügen ganz ohne fremdes Zutun einander gegenseitig abschlachten zu sehen.
Das Erbe des realistischen und des epischen Musiktheaters, dessen eines Zentrum bis in die achtziger und frühen neunziger Jahre die Stadt Berlin war, ist aufgebraucht, die lange Nacht der Resteverwerter und Kunstblasenjongleure nimmt kein Ende. Homoki wechselt in der Spielzeit 2012/2013 an das teuerste Opernhaus der Welt, das Zürcher Opernhaus. Ein Kulturpolitiker, der den Wiederanschluß der Berliner Opernhäuser an gesellschaftliche Prozesse durch kluge konzeptionelle und personelle Entscheidungen betriebe und begleitete, einer vom Schlage des Musikreferenten im preußischen Kultusministerium Leo Kestenberg, ist nicht in Sicht.
Hamlets letzte Worte »Der Rest ist Schweigen« hat Jost unvertont gelassen, dabei hätte mit ihnen ein Komponieren, das ernstmachte mit Hamlets und unserer Tragödie, zu beginnen. Wir wissen es seit Schönbergs Opernfragment und Nonos Spätwerk: Aus dem Rest entsteht der Weltentwurf.
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