von Kai Agthe
Der damals in Ost-Berlin lebende Schriftsteller Thomas Brasch ging im Dezember 1976 in die Bundesrepublik. Es fiel nicht weiter auf. Was daran lag, daß wenige Wochen zuvor Wolf Biermann ausgebürgert worden war. Die westdeutschen Medien konzentrierten sich ganz auf den DDR-Barden. Der Grund, der Brasch aus dem Land trieb: Er wollte einfach dort leben, wo seine Texte gedruckt werden. Der Hinstorff-Verlag hatte zwar signalisiert, »Vor den Vätern sterben die Söhne«, Braschs heute bekanntestes Buch, publizieren zu wollen, gleichzeitig aber Änderungen am Manuskript verlangt, die das Wesen des Werkes verändert hätten. Brasch nahm sein Konvolut und ging in den Westen. Dort erschien es im Jahr 1977.
In seinem ersten Interview, das am 3. Januar 1977 im »Spiegel« erschien und den Band mit 25 Interviews eröffnet, nannte Brasch die Gründe: »Hinstorff meinte, diese Darstellung sei eine grobe Verzerrung der DDR-Arbeitswelt. Das war der erste Punkt bei der Ablehnung. Der zweite war der Tod an der Mauer, der in einer Geschichte eine Rolle spielt. Der dritte Punkt war die wiederum als verzerrt bezeichnete Darstellung der Jugend in der DDR.« Die Mauer in einem literarischen Text zu erwähnen, war ein Tabu-Bruch. Allein dies mußte zur Ablehnung des Manuskripts führen. Die innerdeutsche Grenze hatte in der Literatur der DDR nicht zu existieren – allenfalls, so die bekannte Floskel, als »antifaschistischer Schutzwall«.
Thomas Brasch wurde 1945 in England geboren, wo seine jüdischen Eltern im Exil lebten. Von 1956 bis zu deren Schließung 1960 besuchte er die Kadettenanstalt der Nationalen Volksarmee in Naumburg. (über diesen frühen Erfahrungen in der DDR berichtete er 1977 in einem ausführlichen Interview für die »New German Critique«.) Im Jahr 1965 wurde Brasch, der in Leipzig Journalistik studierte, aus politischen Gründen exmatrikuliert und 1968 wegen angeblich »staatsfeindlicher Hetze« verhaftet und zu 27 Monaten Gefängnis verurteilt, weil er nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die ČSSR mit Flugblättern dagegen protestiert hatte; Exmatrikulation von der Filmhochschule Babelsberg inklusive. Seine Stücke, die Brasch ab Mitte der sechziger Jahre schrieb, wurden, wenn sie die Bühne erreichten, zu großen Teilen vor oder nach der Premiere verboten. Das »Poesiealbum 89« blieb Braschs einzige Buchpublikation in der DDR. Eine Biographie, die Thomas Brasch 1982 gegenüber der »taz« so resümierte: »Die Geschichte? Aus der bin ich gemacht!«
Brasch war ein sehr eloquenter Gesprächspartner, der auf eine Frage druckreif antworten und aus der Situation heraus vielfältige Bezüge herstellen konnte. In der DDR hatte der Autor keine Interviews gegeben. An das Interesse der West-Medien an seiner Person mußte er sich erst gewöhnen. Er war anfangs unsicher, reagierte oft verstört oder ungehalten. »Ich merkte plötzlich«, sagte Brasch in einem Interview im Süddeutschen Rundfunk 1988 (zu sehen auf www.youtube.de), »wie ich mich gespreizt habe wie ein Pfau oder in mich zurückgezogen.«
Zu einer billigen Polemik gegen die DDR hat sich Thomas Brasch nie hinreißen lassen. Schon in seinem ersten Interview betonte er: »Ich stehe für niemand anders als für mich.« Das heißt auch, er wollte in der Bundesrepublik als Dichter, nicht als Dissident wahrgenommen werden. Und noch 1993 sagte er in einem Gespräch mit der »Berliner Zeitung« in der für ihn typischen Ehrlichkeit: »Ich wollte mich einfach in kein neues politisch-ideologisches Raster zwängen lassen. Ich wollte doch gar nicht wie andere, die weggingen oder weggegangen wurden, die sozialistische Ordnung in der DDR beseitigen, sondern sie produktiv machen. Um über der Erkenntnis, daß das nicht ging, nicht zum ewigen Oppositionellen zu werden, ging ich weg.«
In den späteren Interviews konzentrieren sich die Fragesteller auf das, was Brasch wichtig war: die Dichtung. Er wird zu eigenen literarischen Texten und zu seinen Übersetzungen u.a. von Werken Shakespeares und Tschechows befragt. Am Ende steht ein Gespräch über Uwe Johnson (1934-1984), mit dem Brasch befreundet war – so gut, wie man eben mit dem spröden Johnson befreundet sein konnte. Aber auch Brasch sagte von sich: »Ich habe mich in Gegenwart anderer Autoren nie richtig wohl gefühlt.« Uwe Johnson übrigens auch nicht.
Dieser Interview-Band ist das gewichtige Zeugnis eines deutsch-deutschen Dichterlebens!
Thomas Brasch: »Ich merke mich nur im Chaos«. Interviews 1976-2001. Herausgegeben von Martina Hanf in Zusammenarbeit mit Annette Maennel, Suhrkamp Verlag Frankfurt um Main 2009, 316 Seiten, 22,80 Euro
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