Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 31. August 2009, Heft 18

Deutsch-deutsch durchgeknallte Eliten

von Helmut Höge

In Westberlin sind die upper few immer noch ganz aus dem Häuschen – über den plötzlichen Sieg über den Kommunismus. Der Springerstiefelverlag meinte, daß mit der Enttarnung des Benno-Ohnesorg-Mörders Kurras als Stasi-Spitzel nun sogar die Zeit reif sei, um ein »Springer-Tribunal« zu veranstalten. Nicht um die eigene Konzern-Enteignung noch einmal auf die Tagesordnung zu setzen, sondern diesmal genau andersherum: um die »68er« und ihre ganzen Verbrechen konzentriert vorzuführen. »Alle reden ständig über die Verbrechen der Stasi und der SED, aber keiner über die der Maoisten!«, so ungefähr.
Diese Morgenröte der antikommunistischen Reaktion hat mit dem Einbruch des Neoliberalismus noch zugenommen, außerdem gilt es, als Topevent »20 Jahre Mauerfall« aufzuziehen – zusammen mit »2000 Jahre Hermannschlacht« … Die seit Obama vergutmenschlicht »Varusschlacht« heißt.
Die hessische Commerzbank ließ sich in der BRD-Hauptstadt dazu plakativ einen neuen Werbespruch einfallen: »Mauern einreißen/ Krisen meistern/ Das ist unser Alltag in Berlin!«
Auch die Weingutsbesitzer in Westdeutschland wollen den »Mauerbruch« ’89, und natürlich ihre guten Weine gleich mit, zünftig feiern. Sie sind seit 1910 im »Verband Deutscher Prädikatsweingüter« (VDP) organisiert. Unter dem Motto »Die Freiheit zu genießen – Genuß ohne Grenzen« hatte ihr Ehrenpräsident Michael Prinz zu Salm-Salm, ein pfälzischer Finanzfondsmanager und Weingutsherr, ins Wiesbadener Kurhaus geladen. Die Gäste zahlten zwischen 195 und 650 Euro für eine »Galakarte«. Dafür wurde ihnen »Ostalgie in allen Sälen«, ein »Trabicorso«, ein Auftritt der Ostband »Die Prinzen« und ein Udo Lindenberg-»Look Alike« geboten. Vor der Tür hatte Bundesverteidigungsminister Jung ein Segment der Berliner Mauer aufstellen lassen. Daneben plazierte man dann einen hessischen Gelegenheitsjobber in Volkspolizisten-Uniform, mit dem die illustren Gäste sich fotografieren ließen. Einige taten dabei so, als würden sie über die Mauer klettern beziehungsweise sie einreißen.
Vorher gab es aber noch eine Audienz beim Schirmherrn des 9. VDP-Balls, Ministerpräsident Roland Koch. Dort erschien auch der anscheinend einzige Gast aus Ostdeutschland: Roy Metzdorf, Besitzer des »Weinsteins« am Helmholtzplatz in Prenzlauer Berg – dem laut »Kleinen Johnson« besten Weinlokal Deutschlands. Er kam zusammen mit dem Weinkritiker und FAZ-Autor Stuart Pigott und hatte sein altes FDJ-Hemd dabei, das er jedoch nicht überzog, weil ihn das ganze reaktionäre Brimborium an dem Abend zu sehr irritierte. Zum Beispiel mahnte Roland Koch, bei aller Freude über die gewonnene Freiheit nicht die Bundeswehrsoldaten zu vergessen, die früher an der gefährlichen innerdeutschen Grenze Dienst getan hätten. Und der aus dem niedersächsischen Fürstentum Lippe stammende Schweinfurter Unternehmensberater Georg Prinz zur Lippe hielt eine Rede auf Sächsisch, denn er hatte 1990 das bei Meißen gelegene Weingut seiner Familie »Schloß Proschwitz« zurückgekauft. Der Prinz zu Salm-Salm stellte sich bescheiden als ›Michael Salm‹ vor, erlaubte aber langjährigen Weggefährten, ihn einfach ›Prinz‹ zu nennen.
Wieder zurück im Osten, erzählte Roy Metzdorf: »Beachtenswert war außerdem, daß man zum Dinner sechs westdeutsche Weine reichte, die von ostdeutschen Kellnern serviert werden durften, daß Ministerpräsident Koch zum Prinzenlied ›Du mußt ein Schwein sein‹ stehend und rhythmisch mitklatschte, während man zum Lied ›Ich wär’ so gerne Millionär‹ Kerzen . schwang. Und ferner die Bemerkung des Prinzen: ›Man müsse sich das mal vorstellen – dieses Haus sei noch vom Kaiser eingeweiht worden, und nun schlügen wir uns hier mit kleinen Prinzen rum‹ … Zwanzig Jahre nach ’89 hatte man sich den Osten so richtig kommen lassen!«
Solche Geschichten hören wir gerne, besonders in Krisenzeiten. Aber, so fuhr Roy Metzdorf fort, »wer glaubt, derlei Skurrilitäten können nur im Westen blühen, irrt. Noch vor dem Mauerbruch soll sich in der DDR, wie mir erzählt wurde, folgendes abgespielt haben: Den Wehrdienst leistend, mußte einmal eine komplette Kompanie im Winter in kurzen Hosen antreten. Es kam ein Offizier, der die Beine der Soldaten begutachtete und die zehn Jungs mit den dicksten Waden abführte. Sie wurden in ein Waldstück gebracht, in dem ein bajuwarisch blau-weiß geschmücktes Bierzelt stand. Die Dickwaden bekamen Krachlederhosen und Trachtenhemden verpaßt und mußten einen Abend lang, Maßkrüge schleppend, so tun, als seien sie Almbuben. Zu bayrischer Live-Blasmusik tafelte an Holztischen niemand anderes als das Mitglied des Politbüros des ZK der SED und Abgeordneter der Volkskammer, Träger des Karl-Marx-Ordens, der Minister für Nationale Verteidigung Genosse Armeegeneral Heinz Keßler mit der versammelten militärischen Elite der DDR. Einige Jahre vor ’89 hatte man sich also hier den Westen so richtig kommen lassen!«