von Erhard Weinholz
Mein Freund K. meint, ich sei pervers, ein Masochist. Denn er fand mich bei einem Besuch vor ein paar Tagen beim Lesen des ND. Nicht des aktuellen, das hätte er vielleicht noch akzeptiert, sondern der Nummern vom Juli und August 1989. Eine Revolution stand vor der Tür, und ich wollte sehen, ob ich im Zentralorgan der SED irgendwelche Hinweise darauf entdecken würde, Hinweise, die mir vor zwanzig Jahren bei der ND-Lektüre entgangen waren.
Als ich den Zeitungsstapel aus einem arg verstaubtem Plastebeutel zog, staunte ich – darüber, wie dünn selbst die führende Tageszeitung war: acht Seiten in der Woche, zwölf oder sechzehn am Wochenende. Zum Ausgleich hatte sie – ihrem Rang entsprechend – ein beträchtlich größeres Format als alle anderen Zeitungen im Lande. Als man 1992 zum Normalmaß überging, fand ich mich auch als Leser irgendwie herabgestuft.
Das Blatt war übersichtlich aufgebaut: Der Platz auf Seite 1 links oben etwa gehörte fast immer den Worten und Taten Erich Honeckers. War er im Urlaub oder krank, fiel der Raum keinem anderen Politiker zu, sondern wurde mit Sachbeiträgen gefüllt. So waren die Bürger stets informiert, ob ihr Landesvater auf dem Posten sei, und sie sahen zugleich, daß er keinen Stellvertreter hatte, also unersetzlich war. Im Sommer ’89 fehlte Honecker oft; das konnte immerhin als ein – damals übersehenes – Vorzeichen eines Wandels gelten.
Daß die DDR-Presse, wenn es ums eigene Land ging, fast nur Erfolgsmeldungen brachte, ist bekannt. »Nahezu drei Viertel der Wintergerste eingebracht«, »Superschnelle Druckmaschinen aus Radebeul« »Erfolgreichstes Halbjahr in der Bürgerinitiative«, »Junge DBD-Mitglieder aktiv im FDJ-Aufgebot DDR 40« … Aus allen Ecken und Enden des Landes gab es auf allen nur denkbaren Gebieten im ND Positives zu vermelden. Ganz ausklammern wollte man die Schattenseiten des Lebens aber nicht, wohl vor allem aus erzieherischen 10 Gründen. Die Kriminalität, von der hin und wieder die Rede war, ging jedoch über Einbruchdiebstähle nicht hinaus, wobei die Täter stets schon gefaßt waren. Ansonsten gab es an Negativem allenfalls noch Verkehrsunfalle, Titel wie »Drei Todesopfer durch riskantes Überholen« finden sich allwöchentlich.
Alles in allem ein glückliches Land also, diese DDR. Ein Land aber auch, das rings umgeben war von stürmischer See. Standardmeldungen aus der BRD lauteten etwa: »Hamburg: 1989 bereits 40 Drogenopfer«, »Situation der Arbeitslosen immer bedrückender«, »Kälbermastskandal weitet sich aus«. Doch aus dem Westen war sowieso nichts Besseres zu erwarten. Beunruhigender war die Lage im Osten: Aus der Sowjetunion kamen fast nur noch Nachrichten von Demonstrationen und Streiks (jedenfalls brachte das ND kaum anderes mehr), in Polen drohte der PVAP der Machtverlust, und selbst in Prag wurde demonstriert. Erstaunlich dabei, wie kommentarlos das ND die Entwicklungen wiedergab – allenfalls kommentierte man eine Nachricht durch andere: Nachdem am 24. August ein Vertreter der Opposition polnischer Ministerpräsident geworden war, brachte man kurz darauf jeweils auf Seite 1 zwei Beruhigungsmeldungen: »Polens Minister für Verteidigung zum bewährten Bündnis « und »Aussteller der VRP: Vertiefung der Wirtschaftsbeziehungen [zur DDR – E. W.]«.
In welchem Maße das alles für die Deutsche Demokratische Glücksinsel von Belang war, darüber war ich mir damals, im Sommer 1989, noch im Zweifel – ich hielt die Verhältnisse für stabiler, die Massen für träger, als sie es waren.
Ein kleiner Teil dieser Massen zumindest war in jenem Sommer schon in Bewegung geraten: die Flüchtlinge an der Grenze von Ungarn zu Österreich, die Botschaftsflüchtlinge in Warschau und Prag. Ein leidiges Thema für das ND. »Wie westliche Medien … verbreiten, besuchen einige DDR-Bürger Botschaften der BRD im Ausland …, um dort persönliche Angelegenheiten vorzubringen «, hieß es in einer ersten Meldung vom 7. August. Es dauerte fast zwei Wochen, bis man sich dazu durchrang, den konkreten Zweck der Besuche zu nennen. Doch so peinlich und rufschädigend die Fluchtbewegung für die DDR auch war, als zwingenden Hinweis auf den nahen Zusammenbruch mußte ich sie damals nicht verstehen – die Staatsordnung gefährdeten die Flüchtlinge vom Sommer ’89 allenfalls indirekt. Sie in einem Atemzug mit den Demonstranten vom Herbst zu nennen, schmälert die Leistung der Hiergebliebenen (es hat ja mehr als einen Versuch gegeben, diese Leistung kleinzureden).
Noch etwas scheint dem ZK-Apparat in jenen Wochen erheblichen Verdruß bereitet zu haben: eine in der zweiten Julihälfte im Berliner »Tagesspiegel« erschienene Analyse der beträchtlichen Schwierigkeiten, mit denen die DDR-Wirtschaft zu kämpfen hatte. Die im ND vom 3. August veröffentliche Antwort umfaßte mehr als anderthalb Seiten; sie war der längste Beitrag, der in diesen zwei Monaten erschien – selbst die in Vorbereitung des XII. Parteitages abgedruckten Grundsatzartikel gingen über eine Seite nicht hinaus.
Als ich diese Antwort jetzt noch einmal las, fiel mir etwas auf, das ich damals nicht bemerkt haue: das Fehlen von Versprechungen – und zwar nicht nur in diesem Beitrag, sondern überhaupt. Das signalisierte Perspektivverlust. Um 1960 war oft vorn Jahr 2000 die Rede gewesen, später war 1980 eine wichtige Marke. Jetzt reichte der Horizont mit den Plandiskussionen und Parteitagsvorbereitungen gerade einmal bis zum nächsten Jahr. Von ihm war aber wiederum mit größter Selbstverständlichkeit die Rede – mir kam es wie ein Gleichnis für die Unvorhersehbarkeit unseres Lebenslaufes vor.
Wie nahe das Ende war, kann ich dem damaligen ND auch heute nicht entnehmen. Ich hätte es wohl auch aus keinem anderen Blatt herauslesen können. Die vielen, die schon in zwei, drei Monaten auf die Straße gehen sollten, ahnten selbst noch nichts von ihrer Bestimmung. So hat diese ND-Lektüre eher mein Bedürfnis nach heiler Welt befriedigt. Und das ist nicht pervers, oder?
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