Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 8. Juni 2009, Heft 12

Im Seniorenstift

von Bernhard Spring

»Kinder sind Eigentum der Eltern. Erst ein Auto haben, dann ein Haus haben, dann Kinder haben.« Was der Kinderbuchautor und Maler Janosch 1995 noch als Parodie auf den deutschen Sprachgebrauch formulierte, ist dieser Tage der Wahrheit wieder einen Schritt nähergekommen.
Als ver.di-Chef Frank Bsirske jüngst eine Einkommensverbesserung für Erzieherinnen forderte, die deren Gehaltsstufe auf die der Müllmänner anhebt, überschlugen sich sofort die Kommentare, die teils nüchtern, teils erhitzt die Arbeitsanforderungen dieser beiden Berufsgruppen miteinander verglichen. Sind beispielsweise die körperlichen Anstrengungen und der Gestank, dem Müllmänner ausgesetzt sind, dem Windelwechseln, Liedchensingen und Basteln der Kindergärtnerinnen gleichzusetzen? Lassen sich überhaupt zwei so unterschiedliche Arbeitsgebiete gegeneinander abwägen?
Aber niemand fragte in all der Erregung nach den Kindern, obwohl doch gerade hier die Crux der Forderung Bsirskes lag: Der Umgang mit Kindern wurde doch eindeutig mit dem Beseitigen von Müll gleichgesetzt beziehungsweise verglichen! Was auf dem ersten Blick nach einem lapidaren sprachlichen Fauxpas aussieht, scheint bei genauerer Betrachtung doch eher eine aktuelle, aber nicht ganz neue Grundstimmung der Gesellschaft wiederzugeben, die in Kindern hauptsächlich eine Belastung der Familien sieht – gerade in Zeiten der Krise.
Möglicherweise deutet sich gegenwärtig das Ende der behüteten Kindheit an, wie sie Jean-Jacques Rousseau 1762 mit seinem pädagogischen Standardwerk »Emile oder über die Erziehung« begründete und wie sie das europäische Bildungsbürgertum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierte. Die Kindheit war als geschützter Zeitrahmen gedacht, der nicht nur die Eltern, sondern mit Aufkommen des Sozialstaates auch die gesamte Gesellschaft in die Pflicht nahm.
Als einer von vielen Höhepunkten dieses Engagements für die Nachkommenschaft gilt die »Kinderladen«-Bewegung im Westdeutschland der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, die Kinder und die Suche nach individuellen Erziehungsmethoden in das öffentliche Bewußtsein rückte. Doch heute stören Kinder vornehmlich nur noch. Überflüssig erscheinen diese sowieso schon seit 1990, als in den neuen Bundesländern Reisefieber, Hausbauflut und Vergnügungslust mit Hilfe der frisch gewonnenen Möglichkeiten befriedigt werden wollten. Wer dachte da an Kinder? Im Gegenteil: Die Wendegeneration, also die zwischen 1987 und 1991 Geborenen, blieb häufig auf der Strecke.
Auch um die Jahrtausendwende sah der Trend nicht anders aus: Die Generation der Zeitlosen und der ständig Verfügbaren nahm eine instinktive Abwehrhaltung gegenüber Kindern ein, da sie die berufliche Flexibilität beeinträchtigten und der privaten Selbstverwirklichung im Weg standen. In der derzeitigen Gesellschaft schließlich, die sich ungeachtet ihrer unaufhaltsamen Alterung an der Illusion einer gereiften Jugendlichkeit orientiert, ist für Kinder gar kein Platz mehr. Wirtschaft, Infrastruktur und Kultur orientieren sich schon längst an der Generation »50 plus«.
Kinder belasten, da weder Sozialstaat noch Wirtschaft die werdenden Familien ausreichend entlasten. Hinzu kommen soziale Ausgrenzungen von Eltern. Diese beginnen mit verärgerten Blicken in der Straßenbahn, wenn ein Kind quengelt oder gar weint, und enden in Statistiken wie jener, die belegt, daß Vierzehnjährige inzwischen von denselben Sorgen umgetrieben werden wie Vierzigjährige: spätere Arbeitslosigkeit, Armut, Umweltbelastung. Oder jene Statistik, die aufzeigt, daß jeder vierte Nachbarschaftsstreit sich auf Beschwerden über Kinderlärm zurückführen läßt. Die an sich normalen, manchmal geräuschvollen Verhaltensweisen der heranwachsenden Kinder werden nicht länger geduldet in dem stillen bundesdeutschen Seniorenstift. Ihre geschützte, sorglose Welt wird von Zukunftsängsten und Intoleranz zerstört.
Kinder werden nun selbst im Kindergarten, dem vermeintlich letzten Ort ihrer Unbeschwertheit, als Belastung empfunden. Kindergärtnerinnen echauffieren sich auf absurde Weise über Rückenschmerzen, die sie sich durch das ständige Hinabbücken zu den Kindern zuziehen, und fordern unter anderem aus diesem Grund mehr Gehalt, als brächte nur ihr Beruf körperliche Beeinträchtigungen mit sich und als sei jeder Schmerz mit Geld zu tilgen. Und Gewerkschaftsführer vergleichen Kinder mit Müll: beides Abfall einer Gesellschaft, die nicht länger mit ihren Rückständen konfrontiert werden möchte?