Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 8. Juni 2009, Heft 12

Die russische Lösung der Wohnungsfrage

von Wladislaw Hedeler

Das Schriftstellerduo Ilja Ilf und Jewgeni Petrow haben in den zwanziger Jahren die in Sowjetrußland herrschende Wohnungsknappheit beschrieben, der Regisseur Juri Ljubimow hat Juri Trifonows »Tausch« (1969) im Taganka-Theater inszeniert, Alexander Vatlin hat Ende der neunziger Jahre auf die in den Kreisdienststellen des NKWD abgelegten Denunziationen von Nachbarn durch Wohnungssuchende hingewiesen. In der Regel wurden diese für Rußland nicht ungewöhnlichen Berichte im Westen häufig von relativierenden Erklärungen oder die Administration freisprechenden Entschuldigungen begleitet. Wohnraum sei bekanntlich (immer noch) knapp, die junge (oder in die Jahre gekommene) Sowjetmacht verfügte weder über Mittel noch über Ressourcen, um das Problem aus der Welt zu schaffen, die Wohnraumlenkung würde eine andere sein, wenn die Möglichkeiten hierfür bestünden.
Mit diesem weit verbreiteten und jahrzehntelang kultivierten Irrglauben räumt Mark Mejerowitsch (Jahrgang 1956), der am Moskauer Architekturinstitut promoviert hat und heute an der Fakultät für Architektur der Staatlichen Universität in Irkutsk lehrt, gründlich auf.
Für einen Westeuropäer ist es schwer nachvollziehbar, daß dies alles gezielt und absichtlich geschehen sein soll. Wenn es darum ging, die Bevölkerung zur Arbeit zu zwingen und auf eine bestimmte Lebensweise festzulegen, war der Regierung jedoch jedes Mittel recht. Da materielle Stimuli wirkungslos blieben, griff die Administration zum Zwang. So konnte ganz nebenbei auch das Problem der Arbeitsplatzbindung gelöst werden. Die staatliche Wohnungspolitik war nicht das Ergebnis, sondern die Ursache der Misere, leitet Mejerowitsch sein Buch ein.
Die Staatsmacht profitierte genaugenommen vom Mangel an Wohnraum. Selbstverständlich gab es in einem Land, das Bauernmärkte und private Nebenwirtschaften duldete, auch Ausnahmen von der Regel. Im Oktober 1917 wurde zunächst leerstehender Wohnraum enteignet, wurden später die Immobilien verstaatlicht, Immobilienhandel wurde per Dekret untersagt. Es war verboten, in »reichen Wohnungen« zu wohnen. Als solche galten Wohnungen, deren Zimmeranzahl der Zahl der Mieter entsprach oder diese übertraf. Die zusätzlichen Vorschriften für die einem Mieter zustehenden Quadratmeter Wohnfläche läuteten die Geburtsstunde der Kommunalkas, der Gemeinschaftswohnungen, ein. Sie wurden von mehreren Familien bewohnt, die sich Küche und Bad zu teilen hatten.
Gegenstand der einzelnen Kapitel sind die Lebensweise von Alters- und Berufsgruppen, die Errichtung beziehungsweise Einrichtung von Gemeinschaftsunterkünften für Arbeitskollektive, die Eroberung der Städte durch die Landbevölkerung. Barackensiedlungen für Arbeiter entstanden in der Nähe der Großbaustellen, Mitarbeiter der Administration oder Regierungsangestellte lebten in Ermangelung von Wohnraum zunächst in Hotels, später in Häusern der Regierung. Zu den bekanntesten dieser Bauten gehört das Haus in der Moskauer Uferstraße.
Untersucht wird ferner die Umgestaltung der kommunalen Wohnungspolitik, die Abschaffung der ursprünglichen durch die Mieter realisierten Selbstverwaltung im Zuge der Durchsetzung der Neuen Wohnungspolitik in den Jahren der Neuen Ökonomischen Politik. Neben den überfälligen Investitionen in . Instandhaltung, Reparatur und Modernisierung von Wohnraum wird gezeigt, daß die Kontrolle der Mieter verstärkt wurde. Im Zuge der Reform behielt der Staat die administrativen Funktionen, die wirtschaftlichen Zuständigkeiten gingen 1923 an die Pseudoeigentümer über.
Ab Dezember 1930 war die Hauptverwaltung Kommunalwirtschaft des NKWD das einzige staatliche Subjekt, dem die Durchsetzung der Wohnungspolitik oblag. Unter ihrer Kontrolle waren Hausverwalter, Mieterkommunen und Genossenschaften tätig. Mejerowitseh untersucht die entsprechenden Instruktionen, Vorschriften, Weisungen und Bestimmungen. Er weist nach, wie Schritt für Schritt alle basisdemokratischen Kontrollfunktionen getilgt wurden. Das strategische Ziel war und blieb die totale Kontrolle der Wohnraumlenkung. Pässe, Arbeitsbücher und die Pflicht der polizeilichen Anmeldung erleichterten deren Umsetzung.

Mark Grigorjewitsch Mejerowitsch: Nakasanie shilischtschem: Shilischtschnaja politika w SSSR kak sredstwo uprawlenjja ljudmi 1917-1937 (Bestrafung mit Wohnraum. Wohnungspolitik als Leitungsinstrument in der UdSSR 1917-1937) Rosspen Verlag Moskau 2008, 303 Seiten (Geschichte des Stalinismus)