von Mario Keßler
»Last Post« ist ein überaus bemerkenswertes Buch des britischen Schriftstellers Max Arthur, bemerkenswert wegen der porträtierten britischen Soldaten, durchweg Veteranen des Ersten Weltkrieges, die Arthur interviewte und deren Geschichten er in gut lesbaren Kapiteln aufzeichnete. Sie alle waren zur Zeit des Interviews weit über einhundert Jahre alt, und für manche von ihnen bedeutete eine solche Befragung nicht nur eine äußerste körperliche wie geistige Anstrengung, sondern auch das Rückerinnern an eine durchweg schreckliche Zeit ihres Lebens. Mit nicht weniger als einundzwanzig Veteranen, zumeist früheren Arbeitern und mittleren Angestellten, konnte Arthur noch sprechen; einige von ihnen erlebten die Erstauflage des Buches im Jahre 2005 nicht mehr. Heute, im Juni 2009, sind von ihnen nur noch zwei am Leben.
Alfred Anderson (1896-2005) war der letzte Überlebende jenes »kleinen Friedens im großen Krieg«: Weihnachten 1914 nahmen sich die Soldaten der verfeindeten Armeen die Freiheit zum Waffenstillstand und feierten an der Westfront gemeinsam das Fest, ohne ihre Offiziere zu fragen. Diese schlossen sich, teils freiwillig, teils notgedrungen den Soldaten an, konnten jedoch nach den Weihnachtstagen die Befehlsgewalt zurückgewinnen. »Was haben wir gewonnen und was verloren?«, so Anderson. »Ich denke, daß Menschen immer miteinander kämpfen werden. Ich vermute, man braucht den Krieg um einige Dinge zu klären – aber vielleicht gibt es einen bessern Weg, um dies zu tun.«
Albert Marshall (1897-2005) erinnerte sich an die Gasangriffe – »und das Gas ist immer noch in mir, heute noch. Jeden Morgen und jeden Abend um sechs Uhr tränen mir die Augen. Schauen sie sich meine Haut an: die ist ganz trocken. Heute Abend wird mir wieder der Arm schmerzen, bis hoch zum Ellbogen, und auch der Hals wird mir wehtun. Das fühlt sich an wie Nadelstiche und dauert nun schon neunzig Jahre. Der Arzt hat mir zwar Salben dagegen verschrieben, aber das kann die Sache nur lindern und nicht auskurieren.«
Alfred Finnegan (1896-2005), der in Ypern die Giftgasangriffe knapp überlebte, entschied sich nach dem Krieg, keine Kinder in die Welt zu setzen. »Ich wollte einfach kein neues Kanonenfutter produzieren, weder für die Armee noch für die Rüstungsindustrie.« William Roberts (1900-2006), der 1916 seinen Vater an der Somme verlor und selbst noch zum Bodenpersonal der Luftwaffe eingezogen wurde, schildert, wie auch im britischen Heer, nicht nur bei den Soldaten der Mittelmächte, die Disziplin immer mehr nachließ. Er sah es als das Glück seines Lebens an, daß er nicht mehr zum Einsatz kam.
Tom Kirk (1899-2004), der als Armee-Krankenpfleger das tägliche Elend der Verwundeten und Verkrüppelten zu lindern suchte, sah dennoch einen Krieg als absolut notwendig an: den gegen Hitler. Der Nazismus, das war für Kirk von Anfang an der Drang nach Krieg, der alle Schrecken von 1914 bis 1918 wieder aufleben lassen würde. Er machte sich keine Illusionen: Die »Appeasement- Politik der Tories« werde Hitler nur in seinem Aggressionskurs bestärken, habe er immer wieder gesagt. Ähnlich dachte Harold Lawton (1899-2005), als er sich 1939 zum Kriegsdienst meldete. Doch nur die Polizei hatte für ihn Verwendung, und später bereitete der promovierte Romanist (und spätere Professor) Offiziere und Soldaten auf das Leben unter Kriegsbedingungen im zu befreienden Frankreich vor. Sein Name stand auf einer Liste von Personen, die im Falle einer siegreichen Invasion von den Nazis umgebracht werden sollten.
Die beiden noch Lebenden sind Henry Allingham (Jahrgang 1896), Europas ältester Mann, und Hany Patch (Jahrgang 1898). Der lange sehr vitale Allingham, den ein aktuelles Foto mit einem gut gefüllten Bierglas in der Hand zeigt, sagte, es gab nur eines im Krieg, woran man mit guten Gefühlen zurückdenken könne: an die echte, nicht die romantisierte Kameradschaft. Über alles andere, so Allingham, habe er Jahrzehnte lang nicht sprechen wollen. »Aber jetzt kommen all die Leute, weil ich ja einer wenigen bin, die noch leben. So muß ich wieder an all das denken. Aber es gibt immer noch Dinge, an die ich gar nicht denken möchte. Manchmal glaube ich, das alles ist einem anderen passiert, nicht mir.« Allingham, der in der britischen Flotte diente, ist der letzte Überlebende der Seeschlacht vor dem Skagerrak von Mai bis Juni 1916.
Harry Patch ist weltweit der einzige noch lebende Soldat, der das Grauen der Schützengräben durchlitt. Er sah und sieht immer noch seine Aufgabe darin, vor jeder Kriegsbegeisterung zu warnen. Mit bewegten Worten schildert er, wie er im Jahre 2004 den Elsässer Charles Kuentz (1897-2005) traf, der im Ersten Weltkrieg auf deutscher Seite kämpfen mußte. »Er war ein interessanter Mann und wir sprachen miteinander. Dann verstummten wir beide und starrten auf die Landschaft. Wir beide erinnerten uns an den Gestank, den Lärm, das Gas, den mit Blut vermischten Schlamm, an die Schreie der sterbenden Kameraden.« Im Zweiten Weltkrieg war der Antifaschist Kuentz in der Résistance aktiv.
Die Erinnerungen der Veteranen legen auf eindringliche Weise Zeugnis vom Leid eines Krieges ab, der in England immer noch The Great War und in Frankreich La Grande Guerre genannt wird. Als am 1. Januar 2008 der letzte deutsche Kriegsveteran, der Jurist Dr. Eich Kästner, kurz vor seinem 108. Geburtstag starb, fand dies in der Öffentlichkeit kaum ein Echo. Die Alliierten, so Frankreich, erwiesen ihren letzten Veteranen mit einem Staatsbegräbnis die Ehre oder haben dies, so Großbritannien wie auch Kanada und die USA (dort lebt noch jeweils ein Veteran), ihren Soldaten angeboten. Viel ist hierzulande von Erinnerungskultur die Rede. Doch wer erinnert an die, die bis zuletzt Zeugnis ablegen konnten davon, was der erste Massenvernichtungskrieg wirklich für jeden einzelnen bedeutete? Die im Jahre 2004 in der ARD gezeigte fünfteilige Filmdokumentation, in der einige Veteranen zu Wort kamen, ist hierfür wichtig. Sollte sie nicht in die schulische und politische Bildung aufgenommen werden?
»Die Leute erzählen immer noch viel Unsinn über den Krieg«, so Cecil Withers (1898-2005). »Aber ich sage ihnen dann immer, wie es wirklich war. Manchmal komme ich mir dabei wie ein Spielverderber vor. Ich erzähle den Leuten die Wahrheit, um sie zu warnen. Während des Krieges wurde über seine Schrecken Stillschweigen bewahrt, all die furchtbaren Dinge kamen erst später ans Licht. Damals aber wurden sie sorgfältig verborgen. Es gab eine Kriegszensur und die grauenvollsten Sachen wurden einfach verschwiegen. Heute, wenn irgendein schießwütiger Politiker einen neuen Krieg vom Zaun brechen will, dann ist es meine Aufgabe, den Leuten zu sagen, was dies wirklich bedeutet. Die heutigen Politiker sind erbarmungslose Schwätzer. Was wissen die denn? Nur die, die damals dabei waren, wissen, was wirklich geschehen ist – und nur die können und müssen vom Leid und Elend berichten.«
Max Arthur: Last Post. The Final Word from our First World war Soldiers, Weidenfeld & Nicolson London, 272 Seiten, £ 16,99, bei amazon 19,99 Euro
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