Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 25. Mai 2009, Heft 11

Sozialphysik

von Frank Ufen

Man stelle sich eine größere Zahl von Personen vor, zwischen denen es nicht die geringsten Unterschiede gäbe. Alle hätten den gleichen Charakter, das gleiche Temperament und den gleichen Intelligenzquotienten, und alle würden über das gleiche Wissen, die gleichen Fähigkeiten und das gleiche Investitionsgeschick verfügen. Wenn man nun jeder Person tausend Dollar für Aktienkäufe in die Hand drücken würde und wenn das Steigen und Fallen der Aktienkurse völlig zufallsabhängig wäre, was würde dann passieren? Die beiden Physiker Jean-Philippe Bouchaud und Marc Mezard haben das vor einiger Zeit am Computer simuliert und sind dabei zu einem erstaunlichen Ergebnis gekommen: Die meisten Investoren würden kleine Summen gewinnen oder verlieren, manche würden Bankrott gehen, doch einige wenige könnten den großen Reibach machen. Diese Reichen hätten die besten Chancen, immer reicher zu werden – denn wenn viel Kapital vorhanden ist, seien vielfältige Investitionsstrategien möglich.
In den Augen des amerikanischen Physikers und Wissenschaftsjournalisten Mark Buchanan demonstriert dieses Experiment nicht nur, daß die Kluft zwischen Arm und Reich zwangsläufig desto mehr wächst, je mehr der ökonomische Bereich seiner Eigendynamik überlassen wird. Darüber hinaus lasse es darauf schließen, daß es für das Verhalten von Menschen häufig ziemlich belanglos sei, über welche besonderen Charaktereigenschaften und Fähigkeiten sie verfügen. Denn immer dann, wenn es zu Aktionen und Interaktionen größerer Menschengruppen komme, würden durch einfache Rückkoppelungseffekte komplexe Muster der Selbstorganisation entstehen. Diese wiederkehrenden, quasi naturgesetzlichen Muster zu erforschen, sei nach Buchanan die Aufgabe einer neuen Wissenschaft, die er »Sozialphysik« nennt. Sie behandelt in ihren Analysen die Akteure in der gesellschaftlichen Welt wie Atome und Moleküle und macht sowohl Anleihen bei der Physik und Mathematik als auch bei der Soziologie, der Sozialpsychologie und der Wirtschaftswissenschaft.
Buchanan lehnt allerdings vehement die von vielen neoklassischen Ökonomen nach wie vor verfochtene Auffassung vom Homo oeconomicus ab, der angeblich vollkommen rational kalkuliere, handele und seine Entscheidungen in einem sozialen Vakuum treffe. Diese fragwürdige Auffassung treibt Gary Becker bis zum Extrem, wenn er behauptet, daß Menschen immer dann ein Verbrechen begingen, wenn sie nach sorgfältiger Kosten-Nutzen-Analyse zu dem Schluß gelangt wären, daß sich die Sache für sie lohne. Buchanan kritisiert daran, daß hier Menschen aus Fleisch und Blut durch Pseudo-Subjekte ohne Körper, Geschichte und Gesellschaft ersetzt würden und übersehen werde, daß Menschen ständig versuchten, sich Informationen übereinander und voneinander zu beschaffen – besonders in Krisen- und Gefahrensituationen. Zudem habe sich längst herausgestellt, daß die Evolution das menschliche Gehirn nicht dafür vorgesehen habe, kompliziertere Berechnungen durchzuführen oder statistische Wahrscheinlichkeiten einigermaßen korrekt einzuschätzen.
Buchanan verdeutlicht seine Kritik an einem aussagekräftigen Beispiel. 1987 erschien in der Financial Times eine Anzeige für ein ungewöhnliches Preisrätsel. Um daran teilzunehmen, brauchte man sich nur eine Zahl zwischen 0 und 100 auszudenken und einzusenden. Es sollte derjenige gewinnen, der sich für eine Zahl entschied, die dem Wert von zwei Dritteln des Durchschnittswerts aller eingeschickten Zahlen am nächsten kam. Wären nun sämtliche Teilnehmer völlig willkürlich vorgegangen, hätte sich als Durchschnittswert 50 ergeben – und es wäre am sinnvollsten gewesen, auf die 33 zu setzen. Wenn man aber unterstellt, daß alle Teilnehmer absolut rational wählten, ergäbe sich ein extrem kleiner Wert. Am Ende gewann allerdings der Spieler, der auf die 13 getippt hatte. Zwischen den Modellen der ökonomischen Spieltheorie und dem tatsächlichen Alltagsverhalten besteht also eine beträchtliche Diskrepanz.
Buchanan erhebt den Anspruch, mit seiner Sozialphysik Wesentliches zur Erklärung elementarer Phänomene beitragen zu können – von der Entstehung von Modetrends, Gerüchten, Verkehrsstaus, Börsencrashs und Revolutionen bis hin zu Altruismus, Moral und Gott. Diesem ehrgeizigen Anspruch wird er im großen und ganzen gerecht. Es gelingt ihm allerdings nicht, historischen Ereignissen wie dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums auf den Grund zu kommen. Man kann Buchanan vorwerfen, zu Übervereinfachungen zu neigen und sich mitunter zu wenig mit Details zu beschäftigen. Trotzdem: eines der originellsten und aufschlußreichsten Bücher der jüngsten Zeit.

Mark Buchanan: Warum die Reichen immer reicher werden und Ihr Nachbar so aussieht wie Sie. Neue Erkenntnisse aus der Sozialphysik, Campus-Verlag Frankfurt/Main und New York 2008, 262 Seiten, 24,90 Euro