von Ronald Lötzsch
Am 24. März jährte sich zum zehnten Mal der Beginn des NATO-Bombenterrors gegen die Bundesrepublik Jugoslawien. Dieser Staatsname (Zavezna Republika Jugoslavija) galt nach der am 27. April 1992 verabschiedeten Verfassung für die beiden Republiken Serbien und Montenegro. Die übrigen vier Republiken haften sich 1991 beziehungsweise 1992 von der »Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien« getrennt. Slowenien und Kroatien vollzogen diesen Schritt am 25. Juni 1991. Sie konnten sich dabei, wie vorausgegangene Abstimmungen ergaben, auf nahezu hundertprozentige Zustimmung ihrer Titularnationalitäten stützen. Belgrads Versuch, die Sezession mit Gewalt zu verhindern, scheiterte in Slowenien, wo es keine serbische Minderheit gab. In dieser Republik stationierte Armeeinheiten wurden abgezogen.
Anders in Kroatien. Dort lebte nach der 1991 noch vor der Unabhängigkeitserklärung durchgeführten Volkszählung eine 12,2 Prozent der Bevölkerung ausmachende und vor allem in der ehemaligen österreichisch-ungarischen Militärgrenze kompakt siedelnde gut organisierte serbische Minderheit. Diese proklamierte, da das chauvinistische Tudjman-Regime ihr den angestrebten Anschluß an die Republik Serbien verweigerte, eine von Kroatien unabhängige Republik Krajina. Wie Belgrad gegenüber Kroatien setzte auch Zagreb auf Gewalt. Vorerst ohne Erfolg, denn die Krajina war militärisch gut vorbereitet. Und natürlich wurde sie von Serbien unterstützt.
Die Republik Bosnien und Herzegowina zögerte mit der Unabhängigkeitserklärung. Ursache war die komplizierte Bevölkerungsstruktur. Es gab keine eindeutig dominierende Nationalität. Nach der Volkszählung vom März 1991 lebten hier über die gesamte Republik verstreut 1,9 Millionen slawischsprachige Muslime, die schon von den Behörden Österreich-Ungarns, das die Region 1908 annektierte, wie später in Tito-Jugoslawien als eigenständige Nationalität anerkannt worden waren. Sie stellten 43,7 Prozent der Gesamtbevölkerung. Es folgten 1,3 Millionen Serben (31,4 Prozent) und 756 000 Kroaten (17,3 Prozent). Von der übrigen Bevölkerung gaben 240 000 Menschen als »Nationalität« – was unter Tito gestattet worden war – »Jugoslawe« an. Außerdem lebten kleinere Minderheiten, darunter Montenegriner, Roma, und Albaner, in der Republik. Die für den 29. Februar und 1. März 1992 anberaumte Volksbefragung über die Unabhängigkeit wurde von den bosnischen Serben boykottiert. Von den 64,4 Prozent der Bewohner, die sich an der Abstimmung beteiligten, stimmten 99,4 Prozent für die Sezession. Diese wurde am 3. März proklamiert. Unmittelbar danach begannen die bosnischen Serben den Krieg gegen die nichtserbische Bevölkerung, in erster Linie gegen die Muslime, Der Krieg übertraf mit seiner jahrelangen Belagerung Sarajewos und dem Massaker von Srebrennica wahrscheinlich an Brutalität sogar den serbisch-kroatischen. Er endete 1995 mit dem Abkommen von Dayton. Dieses schuf eine Republik Bosnien und Herzegovina mit zwei sogenannten Entitäten, einer Föderation der bosnischen Muslime und Kroaten und einer »Republika Srpska«, der es verboten ist, sieh Serbien anzuschließen. Nach meiner Überzeugung eine Fehlkonstruktion, die kaum Bestand haben dürfte.
Ohne Krieg gelangte lediglich die Republik Makedonien zu ihrer mit Wirkung vom 19. November 1991 proklamierten Unabhängigkeit. Allerdings hatte sie mehrfach Konflikte mit ihrer etwa ein Drittel ihrer Bevölkerung ausmachenden albanischen Minderheit, die auch durch das Abkommen von Ohrid kaum endgültig bereinigt sein dürften.
Diese Unterschiede und Übereinstimmungen gilt es zu beachten, will man sich ein reales Bild von den Ursachen und vom Verlauf des von barbarischen Kriegen begleiteten Zerfalls des Vielvölkerstaates Jugoslawien machen. Eine korrekte Bezeichnung des Staates, den die NATO vor zehn Jahren mit ihrem Bomben- und Raketenterror überzog, gehört meines Erachtens auch dazu.
Nicht Klärung, sondern eher Verwirrung kann es bewirken, wenn der Moderator einer dem Gedenken des zehnten Jahrestages des Beginns des völkerrechtswidrigen NATO-Krieges gewidmeten Podiumsdiskussion, wie ich sie am 24. März erlebte, die Formulierung »Krieg gegen Serbien« dahingehend korrigiert: »Der Krieg ging nicht nur gegen Serbien, es ging gegen ganz Jugoslawien!« Von den sechs Republiken der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien warenjedoch ganze zwei übriggeblieben: die größte und die kleinste, Serbien und Montenegro. Sicher wären fehlende Kenntnisse über Anzahl und! oder Charakter und Politik exjugoslawischer Republiken keine Katastrophe.
Andere Irrtümer über das Ende Jugoslawiens wiegen da schwerer. Große Teile der europäischen Linken, nicht zuletzt der deutschen, hatten sich nämlich eine Sicht zu eigen gemacht, die vollkommen der Propaganda des chauvinistischen Miloevi6-Regimes folgte. Kaum hatte Tito, der die Gleichberechtigung der in Jugoslawien lebenden Albaner mit der Verfassung von 1974 durchzusetzen vermocht hatte, am 4. Mai 1980 die Augen für immer geschlossen, begann eine beispiellose Hetzkampagne serbischer Chauvinisten gegen die albanische Minderheit in der Autonomen Provinz Kosovo und Metochija. Von Völkermord an den Serben war die Rede. Und die Hetze wirkte. Die jahrhundertelange Verbreitung der Legende von der ganz besonderen Sendung des serbischen Volkes bei der Verteidigung des christlichen Abendlandes gegen das osmanische Heidentum hatte in serbischen Seelen tiefe Wurzeln geschlagen. Und die Kosovo-Albaner waren mehrheitlich solche »Heiden«.
Die Hysterie richtete sich schließlich auch gegen die BRD und deren Außenminister. Genscher hatte bereits im Sommer 1991, unmittelbar nach der Unabhängigkeitserklärung Sloweniens und Kroatiens, Ihr deren Anerkennung durch die EU geworben. Die Reaktion serbischer Nationalisten fand unter anderem ihren Niederschlag in einem »Appell der serbischen Intelligenz an das Parlament Rußlands, damit dieses das von der Vernichtung bedrohte serbische Volk unter den Schutz Rußlands stellt«, den die Zeitschrift Neue Zeit in Nummer 12/1993 ihrer russischen Ausgabe abdruckte. Da ich nicht weiß, ob und wo eine deutsche Übersetzung dieses Textes bereits veröffentlicht wurde, sei es mir ungeachtet der Länge des Appells gestattet, hier meine eigene Übersetzung beizufügen. Die Hervorhebungen stammen von mir, ebenso einige Kürzungen.
Hier der Wortlaut: »Wie Ihr wißt, führt das zahlenmäßig kleine, aber tapfere rechtgläubige serbische Volk seit zwei Jahren einen schweren Krieg zur Verteidigung seiner physischen, territorialen und geistigen Existent
Die inneren und äußeren Feinde des serbischen Volkes, die die Zerrüttung und Teilung seines Staates, Jugoslawiens, heraufbeschworen haben, haften jedoch leider Erfolg mit ihrer ungeheuerlichen Propaganda und der Entstellung der Wahrheit über die Ereignisse in Jugoslawien. Sie stellten den Verteidigungskrieg des serbischen Volkes vor der Weltöffentlichkeit als Eroberungskrieg hin […] Indem sie bei der Berichterstattung über den auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens geführten Bürgerkrieg nur die Opfer und Leiden einer Seite, der Kroaten und bosnischen Muslime, schilderten und die Opfer und die viel größeren Leiden des serbischen Volkes verschwiegen, haben die westlichen Medien den allgemeinen Haß gegen das serbische Volk gelenkt […]
Es ist ein derart gefährlicher und unnormaler Zustand eingetreten, daß in zwei Weltkriegen mit Serbien verbündete Länder wie die USA, Großbritannien und Frankreich im Gefolge Deutschlands, des Hauptschuldigen an den Übeln auf dem Balkan, jetzt mittels der NATO in Zusammenarbeit mit einigen moslemischen Ländern, die sich bereits in den Konflikt in Bosnien eingemischt haben, eine militärische Intervention gegen das serbische Volk vorbereiten. Diese Intervention verspricht Ausmaße anzunehmen, daß sie sogar für die Sowjetunion auf dem Höhepunkt ihrer Macht eine ernsthafte Gefahr dargestellt hätte, von so kleinen Ländern wie Serbien und Montenegro ganz zu schweigen […]
Unter diesen äußerst schwierigen Bedingungen und im Bewußtsein der tödlichen Gefahr, in der sich unser Volk befindet, wenden wir uns an das Parlament Rußlands mit der Bitte, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen und das russische Volk, die russische Regierung und Präsident Boris Jelzin zu ersuchen, das serbische Brudervolk unverzüglich unter den Schutz Rußlands zu stellen, um seinen sonst unvermeidlichen Untergang, sein Verschwinden von der Erdoberfläche zu verhindern.« Die Hysterie ging also so weit, daß auch Rußlands Verquickung mit den Balkankriegen nicht ausgeschlossen wurde.
Unabdingbarer Bestandteil der dem Milošević-Regime von der deutschen Linken geleisteten Schützenhilfe waren unglaubliche Legenden. Am häufigsten war zu hören und zu lesen, die von Genscher angestrebte und schließlich durchgesetzte angeblich »vorzeitige«, »übereilte«, ja »verbrecherische« Anerkennung der Unabhängigkeit Sloweniens und Kroatiens hätte den Krieg ausgelöst. Fragte man Verfechter dieser Überzeugung, wann der Krieg ausgebrochen sei, und wann die Anerkennung stattgefunden habe, erhielt man meist als Antwort hilfloses Schulterzucken. Die Aufforderung zu erklären, wie es möglich sei, daß die von der BRD Weihnachten 1991 vollzogene Anerkennung einer im Juni 1991 verkündeten Unabhängigkeit einen im gleichen Monat, also ein halbes Jahr vor der Anerkennung, ausgebrochenen Krieg zur Folge gehabt habe, stieß bei den so Gefragten meist auf betretenes Schweigen. Heute, zehn Jahre nach dem Beginn des völkerrechtswidrigen NATO-Bombenterrors spielt das »chronologische Wunder« von 1991 kaum noch eine Rolle.
Auch Medien, die man nur bedingt zur Linken rechnen kann, veröffentlichen inzwischen Texte, die den Krieg von 1999 als eindeutig völkerrechtswidrig charakterisieren. So zum Beispiel die tageszeitung, die einen Artikel von Andreas Zumach mit der Überschrift versah »Es war ein Bruch des Völkerrechts«.
Die linken Zeitungen Junge Welt und Neues Deutschland zogen es jahrelang vor, Tatsachen, die mit der Milošević-Verehrung nicht zu vereinbaren waren, zum Beispiel das Massaker von Srebrennica, einfach zu ignorieren beziehungsweise falls das nicht möglich war, sogar zu leugnen. Heute kommt dies kaum noch vor. Dennoch kann man nicht umhin, diesen beiden Zeitungen im Zusammenhang mit dem zehnten Jahrestag einen gewissen Rückfall zu bescheinigen. Die Junge Welt zum Beispiel veröffentlichte in der Wochenendbeilage vom 21./22. März ein zweiseitiges Interview mit der US-Amerikanerin Diana Johnstone, in dem Formulierungen vorkommen, die ohne jeden Zweifel die Leugnung des Massakers von Srebrennica zum Ausdruck bringen. Und was Werner Pirker am 24. März auf drei Vierteln einer Seite zu diesem Thema bietet, hätte jedem Propagandachef des Milošević-Regimes zum Ruhme gereichen können.
Ralf Hartmann hatte sogar nicht weniger als vier Seiten, verteilt auf die Ausgaben vom 24. und 25. März zur Verfügung, um ähnliches zu bewirken.
Nicht zuletzt hier wird auch deutlich, daß eine erneute Legendenbildung im Gange ist. Um die angebliche Völkerrechtswidrigkeit der Proklamation der Republik Kosova und ihrer Anerkennung zu begründen, wird behauptet, daß die Sicherheitsrats-Resolution 1244 »die Achtung der territorialen Integrität Jugoslawiens beziehungsweise Serbiens bindend vorschrieb«. Dabei kommt das Wort Serbien in der ganzen Resolution nebst ihren Anhängen kein einziges Mal vor. Dagegen nicht weniger als elfmal der Staatsname Bundesrepublik Jugoslawien. Dieser Staat aber wurde sieben Jahre später von den gleichen Kräften, die die Abfassung der Resolution 1999 veranlaßten und sie am 10. Juni desselben Jahres verabschiedeten, durch die Förderung der Sezession Montenegros abgeschafft – die Resolution mithin makuliert.
Dem Neuen Deutschland kann man zugute halten, daß es am 24. März nebst einigen Beiträgen ähnlicher Art wie die der Jungen Welt auch einen des Serben Ivan Ivanji abdruckte. Ivanji, langjähriger Dolmetscher Titos, vermittelt, soweit dies in einem fünfspaltigen Keller möglich ist, ein wahres Bild des Zerfalls Jugoslawiens und des Krieges von 1999. Er enthält den bemerkenswerten Satz: »Ich behaupte: Ohne die Greueltaten, die die eine Seite – die serbische unter Milošević – begonnen und die andere – Kosovo-Albaner unter der ungeduldigen Kampforganisation UCK – in umgekehrter Richtung fortgesetzt hat, wären wir alle zusammen in einem friedlicheren und gerechteren Europa, als es sich nach dem NATO-Krieg entwickelt hat.«
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