Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 13. April 2009, Heft 8

Und sagt nicht, Freunde, wir mußten

von Henryk Goldberg

Es kann doch nicht sein, Freunde, daß wir wieder mal nichts gewußt haben. So gar nichts, so überhaupt nichts. Den Satz haben wir doch unseren Eltern schon empört zurückgegeben, und sie hatten nun, weiß Gott, mehr Recht, mehr Angst zu haben. Warum glauben wir es jetzt, da es uns betrifft? Vielleicht: weil wir etwas zu verdrängen haben? Aber haben wir denn nicht gesagt, wenn Faschismus in Rede stand und Stalinismus: Nichts Verdrängtes ist wirklich bewältigt? Und wieso sagen wir das nicht, wir tapferen Journalisten, wir, die wir so unnachgiebig kritisch sind, die wir den Kompromiß so verabscheuen, wieso eigentlich sagen wir das nicht, wenn unsere eigenen Kompromisse gemeint sind, unsere Meinung erwartet wird zu unserer Meinung – die wir gestern hatten?

Ich habe, was aus dem »Großem Hause« mir vernehmlich wurde, nie sonderlich geschätzt, und gesagt hab‘ ich: »Die Abteilung Agitation ist das Zentrum der Konterrevolution.« So ganz leise, so ganz unter uns.

Und sagt nicht, Freunde, wir mußten. Wir mußten schon: wenn wir weitermachen wollten. Aber mußten wir weitermachen wollen? Wir haben doch selbst gestrichen, wovon wir wußten, es würde gestrichen werden, und gefragt werden würden wir zudem: Warum hast du das nicht gestrichen, bist du doof? Und doof wollten wir nicht sein, wir sind doch nicht doof. Wir haben das Maul gehalten in den Blättern, und, unter uns, wißt ihr noch, Freunde, unter uns haben wir sarkastische Bemerkungen getauscht. Mein Gott, was konnten wir spöttisch sein. Aber den Beruf, den haben wir nicht getauscht. Aus lauteren Motiven mitunter, im Ernst, wir wollten uns ja wirklich engagieren.

Aber unsere Leser sind nicht verpflichtet, heute für unsere Motive von gestern zu schlucken. Kann sein, sie kauen noch an unseren Artikeln.

Wir kriegen es, ich weiß, schwer in die Reihe mit unserem gewachsenen Selbstbewußtsein und -verständnis als kritische Journalisten, aber für möglich halten sollten wir es immerhin: Wenn einmal die Rechnung aufgemacht, wer und was dieses Land so um und um gewandelt hat, da wird unser wohl kaum sonderlich gedacht sein. Oder auf eine Weise, die uns nicht sehr gefallen wird.

Aus: Henryk Goldberg: Deutsches Neuland. Selbstanklage eines Journalisten namens seiner Zunft bei Gelegenheit nachdenklicher Einkehr am Jahresende, in: Junge Welt 30./31. Dezember 1989