Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 27. April 2009, Heft 9

Tierischer Ernst

von Helmut Höge

»Die meisten Menschen können nicht squatten (Häuser besetzen); sie lassen sich schon von einem Stuhl korrumpieren,« meinte der Künstler Santu Mofokeng aus Soweto/Johannesburg. Die Situation ist noch viel schlimmer: Jedesmal, wenn Leute zusammenkommen, um »das Soziale« (wieder)herzustellen, bleiben sie an einem »Ding« hängen – und vereinzeln sich damit quasi gegen ihren Willen erneut. Das war in der Hippie- und-Beatnik-Bewegung so – mit dem »Nomadisch leben« – in VW-Bussen und auf Motorrädern. Mit letzteren sieht man noch heute arme Irre a la »Easy Rider« rumdüsen. Das war in der Studentenbewegung so – mit »Sex, Drugs & Rock’n Roll« – aus denen Pornofilmer & -fans, Drogensüchtige, jede Menge »Clubs« und Amüsierpöbel hervorgingen. Das war mit der Punkbewegung und Technoscene so – die ganze Heerscharen von »DJs« und Musiktheoretikern produzierte, die uns bis heute mit ihrem bescheuerten Wissen über diesen oder jenen »Sound« und die Karrieren von Popmusikern langweilen und zudem die massenhafte Anschaffung von Walkman und iPod bewirkten. Das war mit der Anti-AKW-Bewegung so – die hunderte von Kühlwasser-Einlaß-und-Auslaß-Ventil-Kenner und sonstige Energie-Experten hervorbrachte. Das war mit der konsumkritischen Landkommunen-Bewegung so – aus der sich ein ganzer »Loha«-Markt entwickelte. Das war erst recht mit der Hausbesetzer-Bewegung so, die tausende zu Hausprojekt-Wichsern und Hausbausäuen machte. Ich erinnere in diesem Zusammenhang nur an die »Kommune 1«: Nachdem Günter Grass sie mit Hilfe der Polizei aus der von ihnen besetzten leeren Wohnung von Uwe Johnson rausgeworfen hatte, bot sich ein linker Architekt an, für sie ein Kommunehaus nach Maß zu entwerfen. Dies lehnten sie ab – mit der Begründung: »Wir wollen nicht wohnen, sondern politisch arbeiten.« Und das ist nun auch mit der sogenannten Open-Source-Bewegung der Computerfreaks so, die sich auf immer neue Hightech-Gadgets stürzt und stützt. Einige Nutzerkollektive – »Indymedia« und »Labournet« zum Beispiel – meinen sogar, daß sich mit dem Internet eine neue Alternative zu den alten Gewerkschaften und sonstigen politischen Organisationsformen auftut. Bullshit! Das Berliner online-magazin »infopartisan« kam nach über zehnjährigem Bestehen zu dem Resultat, daß man die Leute nicht über so ein Internetforum organisieren könne – damit werde das Pferd gewissermaßen von hinten aufgezäumt: »Sie müssen sich erst zu konkreten Aktivitäten zusammenfinden, damit das Internet vielleicht für sie brauchbar wird«.

Ähnliches gilt für Bürgerinitiativen: So ist zum Beispiel die Berliner BI gegen die Verschandelung des Schöneberger Gasometers durch den Developer Müller eine konkrete (Wieder-)Herstellung des Sozialen, die sich festigen und ausweiten muß. Letztlich ist es nicht einmal wichtig, ob dieser Scheißgasometer nun von Architekt Müller verschandelt wird, oder ob er aufgibt. Das Soziale ist das Alpha und Omega – und wenn es sich zu einer Bewegung gar ausweitet, sind die Beteiligten sowieso unschlagbar, das heißt, daß sie sogar alle möglichen Politiker und Wichtigtuer auf ihre Seite ziehen, wie schon Rosa Luxemburg prophezeite, die, ebenso wie Trotzki, eine ziemlich gute Analytikerin des Sozialen war – und ihr Herz nie an irgendwelche »Dinge« verlor (dazu gehören auch Parteien, Gewerkschaften, Medien).

Von den Tieren kann man lernen: Als ich im »Deutschen Herbst« (1977/78) auf den Mittelgebirgskämmen gen Süden (aus-)wanderte, blieb mein Pferd jedesmal, wenn unten im Tal ein Dorf näherkam, stehen – und wieherte laut, woraufhin ihm alle Pferde in den Ställen antworteten. In den Städten ging es statt dessen freudig auf sein Spiegelbild in den Schaufenstern zu, ebenso auf jede Marlboro-Werbung, wenn auf ihr ein Pferd abgebildet war. Bei vielen Tieren hat das Soziale immer und überall Priorität gegenüber irgendwelchen »Dingen« – und mehr noch: Mein Pferd, eine Stute, ging nicht durch die kleinste Pfütze, aus Angst vor diesem vielleicht grundlosen, naßkalten »Ding«, aber einmal wieherte ein Hengst auf der anderen Seite eines reißenden metertiefen Flusses. Meine Stute hörte das und stürzte sich augenblicklich in die Fluten, mich hinter sich herziehend, um ans andere Ufer zu gelangen.

Wir brauchen dagegen immer mehr Dinge, um zueinander zu finden – und seien es bloß »Themen«. Kaum haben wir uns davon befreit, schon schieben sich wieder neue Dinge dazwischen. Der in Seattle Ökologie lehrende Afrikaner Mutombo Mpanya meint: »Afrika ist vollkommen im Privatbesitz der westlichen Welt.«, und »Die Bekehrung der Menschen zum Christentum in den sogenannten primitiven Gesellschaften schuf ein isoliertes und individualistisches Bewußtsein«, das auf Konsum aus ist. Dieses macht Mpanya nun für die meisten, wenn nicht alle Übel der Welt verantwortlich. Der Schweizer Ethnologe David Signer hat einige Zauber-Praktiken in Ostafrika studiert – sein Buch heißt »Die Ökonomie der Hexerei oder Warum es in Afrika keine Wolkenkratzer gibt.« Für Signer sind die magischen Praktiken kein psychologisches, sondern ein soziologisches Phänomen. Wenn Frantz Fanon von einem »magischen Überbau« sprach, dann könnte man mit David Signer von einem »magischen Unterbau« reden. Konkret bedeutet das: Wenn jemand Geld verdient hat, kommt unter Garantie sofort ein naher oder entfernter Verwandter an, der vorgibt, zu seiner Sippe zu gehören, und bittet, ihm etwas davon abzugeben. Und aus Angst, verhext zu werden, bekommt er in der Regel auch was ab. Selbst demokratisch gewählte Politiker müssen in vielen afrikanischen Staaten zuerst an ihre Sippe denken und darauf achten, daß diese versorgt wird.

Hier zerfiel dagegen mit der Zerstörung des Gemeineigentums (Allmende) zugunsten des Privateigentums erst die Groß- und dann die Kleinfamilie: »Familie – das ist wie eine gute noch intakte Maschine, die von der Welt abgenutzt wird, schade sie aufzugeben, aber sinnlos, sie neu aufzuziehen. Es gelingt nicht, Mann und Frau müssen jeden Tag das Defizit decken,« meinte Viktor Schklowski bereits 1925. Kurz nach der Machtübernahme der Kommunisten 1949 schrieb der Prager Autor Karel Fabian in »Probleme mit dem Ziegel«: Das Fundament der heutigen Familie sei nicht das Kind, sondern der Ziegel: »Der Ziegel ist das Brot. Der Ziegel ist das Haus. Der Ziegel ist das Paradies auf Erden.« Fabian war ein Jahr zuvor noch strammer Antikommunist gewesen, also ein Wendehals, deswegen schrieb er zwar im Duktus der neuen Machthaber, aber verstand das wenigste davon, denn ob Kind oder Ziegel – der Zerfall der Familie ist damit nicht aufzuhalten. Wir leben heute in einer Zwischenzeit: Nicht mehr in der Lage, das Soziale in der Blutsverwandtschaft aufrechtzuerhalten, und noch nicht fähig, es über Wahlverwandtschaften wieder herzustellen. »Nicht fähig« heißt, daß es in den oben aufgezählten Bewegungen nicht ernsthaft genug versucht wurde. Sicher, es gab einige, die es wirklich ernstmeinten, aber sie wurden ziemlich schnell erschossen oder sonstwie in den Tod getrieben: Rudi Dutschke, Georg von Rauch, Holger Meins, Ulrike Meinhoff …