von Jochen Mattern
Christa Wolf wird jetzt achtzig Jahre alt. Im Oktober vor zwanzig Jahren veröffentlichte die Wochenpost einen Artikel der Schriftstellerin, der für große Aufregung sorgte. Unter der Überschrift: »Das haben wir nicht gelernt« berichtete sie von einer Lesung, die sich zu einer Debatte über die Schule in der DDR ausgeweitet hatte. Christa Wolf gab die Äußerung einer vierzig Jahre alten Lehrerin wieder, die sich außerstande sah, eine eigene Meinung zu vertreten. Dies sei ihr in der DDR abgewöhnt worden, so die Begründung. »Von klein auf« sei sie dazu angehalten worden, »sich anzupassen, ja nicht aus der Reihe zu tanzen, besonders in der Schule sorgfältig die Meinung zu sagen, die man von ihr erwarte, um sich ein problemloses Fortkommen zu sichern, das ihren Eltern so wichtig war«. »Eine Dauerschizophrenie« habe sie »als Person ausgehöhlt«. »Voller Trauer und Zorn« konstatiert Christa Wolf, daß »unsere Kinder in der Schule zur Unwahrhaftigkeit erzogen und in ihrem Charakter beschädigt«, daß sie »gegängelt, entmündigt und entmutigt« worden seien. Ihren Bericht beschließt die Autorin mit einem eher Mut machenden Bild. Es stammt von dem russischen Dichter Anton Tschechow, der einmal davon gesprochen hatte, »den Sklaven tropfenweise aus sich herauspressen« zu müssen. »In diesen Wochen«, resümiert Christa Wolf ihren Eindruck von der Lesung, »pressen viele von uns den >Sklaven< literweise aus sich heraus«.
Mit dem Wochenpost-Artikel traf die Schriftstellerin den Nerv der Leserschaft, die äußerst betroffen und zutiefst gespalten reagierte. Kein Wunder, stand doch das eigene Selbstverständnis und damit das Leben in der DDR in Frage. Wer wollte sich schon eingestehen, etliche Jahre seines Lebens ein »Sklavendasein« gefristet zu haben. Dennoch überraschte die Heftigkeit der Reaktion. Denn mit der Sklaven-Metapher variierte Christa Wolf lediglich ein Grundmotiv ihres literarischen Schaffens: Das waren die Möglichkeiten der Selbstfmdung und Selbstverwirklichung, die der einzelne in der DDR hatte. Ausführlich behandelte sie schon im Roman Nachdenken über Christa T. das mitunter schmerzliche Subjektwerden, der 1969 in zunächst nur geringer Auflage erscheinen konnte. Als Motto zitierte sie Johannes R. Bechers Frage, was das sei, dieses »Zu-sich-selber-Kommen«. Als zweifelhafte Sozialisationsinstanz spielte die Schule schon in diesem Roman eine Rolle.
Die Titelfigur ist ein Alter ego der Autorin. Der Grund, über die nahe Freundin nachzudenken, ist deren Tod im Alter von vierzig Jahren. Als Todesursache geben die Ärzte Leukämie an. Doch an Krankheit als Todesursache mag die Erzählerin nicht so recht glauben. »Von Krankheit kann man immer sprechen«, sagt sie. Im Zuge des Nachdenkens über Christa T. stößt sie auf eine andere mögliche Todesursache, die weniger biologischer als vielmehr sozialpsychologischer Natur ist: Es ist die Sehnsucht nach dem wirklichen Leben, die keine Erfüllung unter den gegebenen Umständen fand. Von einem Scheitern wollte die Autorin zwar nicht sprechen, es sah dennoch alles danach aus. Was in der DDR der sechziger Jahre zählte, waren weniger die Ansprüche, die der einzelne an das Leben stellte, als vielmehr die Anforderungen der sozialistischen Gesellschaft an die einzelnen. Selbstverwirklichung bedeutete, ein nützliches Glied der Gesellschaft sein. Sich anzupassen lernen vermochte Christa T. jedoch nicht. Sie hegte gegenüber dem Leben eigene Ansprüche. Und die duldeten keinen Aufschub. »Wann – wenn nicht jetzt?«, lautet die von Christa Wolf leitmotivisch gebrauchte Forderung, in der sich der Hunger nach Leben artikulierte. Die Spannung zwischen Subjektanspruch und den gesellschaftlichen Gegebenheiten erscheint in dem Roman als unaufhebbar. Insofern verkörperte Christa T. mit ihrem Ungenügen am Alltagsdasein in der DDR einen frühen Entwurf des »unlebbaren Lebens«. Das Wissen darum nährte den »Todeswunsch als Krankheit«. Dessen Ursache war die »mangelnde Anpassungsfähigkeit an gegebene Umstände«. Für DDR-Verhältnisse war das ein so unerhörter Befund, daß das Buch um ein Haar der Zensur zum Opfer gefallen wäre.
Daß ihre Ansprüche ans Leben unvereinbar mit der Alltagsrealität im Sozialismus waren, darüber belehrte die Hauptfigur eine Romanepisode, die in der Schule spielte. Dort unterrichtete Christa T. nach ihrem Germanistikstudium eine Zeitlang als Lehrerin im Fach Deutsch. Ausgerechnet die Schule erteilt ihr eine Lektion in Anpassung. Für das Ansinnen, »auch noch die Lesebuchgedichte ernstnehmen« zu sollen, das Goethische »Edel sei der Mensch«, erntete sie bei den Schülern Spott. Als die neue Lehrerin das Bekenntnis zur sozialistischen Gesellschaft als unverbindliche Phrase durchschaut und die Schulaufsätze deswegen mit einer schlechten Note bewerten will, belehrt die »Musterklasse der Schule« sie »über gewisse Spielregeln des praktischen Lebens «. Die Schüler halten die schlechte Benotung ihrer Aufsätze für vollkommen ungerechtfertigt, sie hätten schließlich das reproduziert, was von ihnen erwartet wird. Wenn das ohne innere Überzeugung geschehen sei, bitteschön. Nur nähmen sie deswegen noch lange nicht in Kauf, daß ihnen die Lehrerin mit ihren unrealistischen Anforderungen die Zukunft verbaut. Auch der anschließende Gang zum Schuldirektor, einem alten Antifaschisten, ändert daran nichts. Christa T. verlange zu viel auf einmal, gibt ihr der zu bedenken.
Das Ende vom Lied ist bekannt. Was zur Entstehungszeit des Romans, in den sechziger Jahren also, noch als Kinderkrankheit einer Gesellschaft erschienen sein mochte, die in Entwicklung begriffen ist, das erwies sich vom Ende her betrachtet als gravierender Defekt: Die permanente Gängelung, Entmündigung und Entmutigung, auf die Christa Wolf in ihrem Beitrag für die Wochenpost aufmerksam machte, erschwerte die Subjektwerdung des Menschen ungeheuerlich. Sie ging oftmals mit schweren existentiellen Konflikten einher. Deswegen stellte das beschädigte Leben eher die Regel denn die Ausnahme dar.
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