Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 5. Januar 2009, Heft 1

Meine Mutter, Napoleon, Goethe und die Freiheit

von Walter Thomas Heyn

Jahreswechsel sind traditionell Momente der Einkehr, des Besinnens, aber auch des Ausspannens, des Seele-baumelnlassens. Niemand ist böse, wenn man das Telefon nicht abnimmt, keiner stört sich daran, wenn man lange ausschläft, Märchenfilme konsumiert, Supertux oder Solitäre am Computer spielt und von Herzen faul ist. Jahreswechsel sind schön, sie sind befreit von entfremdeter Arbeit, wenn wir vom Einkaufswahn und der Küchenarbeit absehen.
Wenn nur gerade zum Lichterfest das Gefühl des beständigen Alterns sich nicht störend immer wieder in die Heiterkeit der freien Tage drängen würde. Nicht zu vergessen: die Sorge, die immerwährende Sorge um das täglich Brot, um das sich zu sorgen doch so dumm ist. »Hat man kein Kotelett, ist auch der Kohlkopf ein Kotelett«, sagte meine Mutter immer. Sie wurde fast neunzig Jahre alt und hätte über meine Ängste mütterlich milde gelächelt. Da hatte sie andere Zeiten durchstehen müssen.
Ja, die Zeiten. Waren sie jemals anders? »Im Abgrund der Geschichte ist Platz für jeden«, soll Napoleon gesagt haben, der am Ende selbst in diesem Abgrund landete. So kamen die ersten Russen als Sieger nach Leipzig. 1945 waren sie wieder da und besiedelten den schönsten Stadtbezirk, nämlich Gohlis. Den hatten die Engländer und Amerikaner nicht bombardiert, dort wollten sie nach dem Krieg selbst wohnen. Die Bomben wurden über den dicht besiedelten Arbeiterbezirken abgeworfen. Dort wohnte auch meine Mutter. Die hatte sich trotzdem sicher gefühlt, denn die Amerikaner hatten Leipzig dann auch befreit. Was konnte sie wissen, was die Großen der Welt ausheckten. Über Nacht waren die Russen da und verhafteten ihren Bruder als Werwolf. Er starb drei Jahre später qualvoll.
Goethe, der Napoleon den »Weltgeist zu Pferde« genannt hatte, mußte lange auf eine Audienz beim Kaiser der Franzosen warten. Zuvor vertrieb seine beherzte Christine Vulpius plünderungslustige Soldaten von seinem Besitz. Sie soll dabei gekeift haben wie ein Marktweib. Meine Mutter kriegte das nicht hin. Die Russen nahmen ihr das Fahrrad weg, beinah ihr einziger Besitz. Sie haßte dieses Volk bis zu ihrem letzten Lebenstag. Ihr Gott hieß Helmut Kohl, der hatte das Westgeld gebracht und die Freiheit. Die Freiheit vor allem, das war ihr das wichtigste Gut. Meine Mutter kam ohne Krücken noch bis zum Konsum gegenüber. Sie unternahm keine einzige Reise mehr. Das Westgeld war in der ganzen Wohnung versteckt. Dazu Schokolade, Konserven und Medizin aller Art für Monate. Sie wußte, was schlechte Zeiten sind und wie schnell sie vor der Tür stehen. Sie war auf alles vorbereitet.
Goethe kannte sie nicht, auch nicht seinen erstaunlichen Vers: »Was gibt es schönres als in warmen Friedenstagen / Ein inniglich Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei / Wenn unten – fern in der Türkei / Die Völker aufeinanderschlagen.« Hätte sie den Vers gekannt, sie hätte ihm NICHT zugestimmt.
Das Jahr 2008 war wie alle Jahre, die durch vier teilbar sind, ein martialisches, ein mörderisches Jahr, voll von Katastrophen, Vernichtung und Haß. Das liege – sagt der Telefonastrologe – am Kriegsgott Mars, der über und durch die Zahl vier herrscht. Der Gleichschritt, der rechte Winkel, das Eckige, Ausgerichtete, Auf-Kante-Gelegte sind in seiner Begriffswelt Zeichen der Erstarrung und der Lebensfeindlichkeit. 2009 wird eher ereignisarm, tröstet mich mein Sterndeuter. Ich frage zurück, ob dies eine gute oder eine schlechte Nachricht sei? Das käme ganz darauf an, von welcher Warte man die Dinge betrachtete, meint er ausweichend und beendet das Gespräch mit der Aufforderung: »Sie müssen da einfach was draus machen«. Woraus, womit, wozu sagt er nicht.
Die alten Griechen hatten neben dem Gott des Glückes einen Gott des richtigen Augenblicks. Denn jeder Tag ist eine Möglichkeit, und jeder Mensch hat jeden Tag eine Chance auf alles. Und die Chancen stehen immer gleich, jeden Tag. Die Chance, der Zufall, die einmalige Gelegenheit will, soll, muß mit beiden Händen ergriffen werden, so sie sich zeigt.
Und die Freiheit? Die Einsicht in die Notwendigkeit (Parteilehrjahr) ist wohl nicht mehr erforderlich. Freiheit als Entbergung von Wahrheit (Heidegger) könnte auch nicht mehr ausreichen. Die Freiheit der Andersdenkenden wird im Moment wohl eher von Moschee-Bauvereinen in Anspruch genommen.
Und daß Arbeit frei mache, stand am einen Höllentor. Goethen predigte: »Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muß.« Das ist immer noch Schulstoff, keine Sorge, Herr Geheimrat. Meine Mutter liebte eher schlichte Weisheiten wie: »Sich regen, bringt Segen«. Das hatte sie in alle Handtücher gestickt.
Napoleon hingegen fragte seine Kumpane »Hat er Fortune?«, ehe er neue Generäle ernannte, und zitierte in seinen Memoiren Perikles: »Das Geheimnis der Freiheit ist der Mut«. So ein Satz ist natürlich kein Schulstoff. Ich empfehle ihn als persönliche Jahreslosung. Denn genau diese Freiheit sollten wir uns alle immerzu kräftig herausnehmen.
Prost!