von F.-B. Habel
Als der Kraftfahrer Fjodor in dem kleinen russischen Provinzstädtchen Barabash den Job des Sportlehrers übernimmt, streift er sich einen Sportanzug über, auf dem unverkennbar die Lettern DDR neben dem bekannten Emblem prangen. Der Moskauer Regisseur Wladimir Kott spickte seinen Debütfilm »Mucha« über eine ungewöhnliche Vater-Tochter-Beziehung mit vielen kleinen Anspielungen auf den Wechsel der Zeiten. Fjodor, der unvermittelt vor die Tatsache gestellt wird, eine halbwüchsige Tochter – eben diese Mucha – zu haben, läßt sich auf die Situation ein, weil er sich nach einem »normalen« Leben sehnt, das ihm offenbar niemand geben kann. In dieser Rolle brilliert Alexej Krawtschenko, der dafür extra zwanzig Kilo abgenommen hat, denn für ihn, den einstigen jugendlichen Hauptdarsteller aus Elem Klimows »Geh und sieh«, war es wohl auch nicht mehr normal, nur noch schwere Superhelden in lauten russischen Abenteuerfilmen zu spielen. Dieser anspielungsreiche stille Streifen wurde auf dem 18. FilmFestival in Cottbus mit dem Preis für den besten Nachwuchsfilm ausgezeichnet.
Im Wettbewerbsprogramm wurden gerade russische Filme auf Anhieb zu Favoriten. Der sympathische Eröffnungsfilm »Tulpan« erzählt von dem Matrosen Asa, der nach dem Armeedienst in die kasachische Steppe zurückgekehrt und bei der Familie seiner Schwester untergekommen ist. Sie leben als Schafzüchter in einer Jurte in einer menschenleeren Gegend. Asas Schwager traut seinem geschwätzigen Verwandten nicht viel zu. Der lebenslustige Mann sieht einen Ausweg in der Heirat mit der einzigen jungen Frau, die weit und breit zu finden ist. Aber Tulpans Eltern sind gegen diese Verbindung. Die Tochter (die nie wirklich zu sehen ist) scheint sich zu fügen. In seiner unspektakulären Erzählweise widerspricht der Film des kasachischen Regisseurs Sergej Dwortsewoj herkömmlichen Sehgewohnheiten. Der Film ist eine internationale Produktion, bei der die polnische Kamerafrau Jola Dylewska eine allzu nervöse Bildsprache mit Handkamera und vielen Schwenks beisteuert. Immerhin errang Dwortsewoj für »Tulpan« den Regiepreis.
Noch ein zweiter »Steppenfilm« erregte in Cottbus viel Aufmerksamkeit. Zwei Nebenpreise und eine lobende Erwähnung erhielt »Wildes Feld«. »Irgendwo in der Steppe Rußlands«, wie Regisseur Michail Kalatosischwili in der Filmdiskussion vielsagend erklärte, lebt ein junger Arzt, der mit großer Selbstverständlichkeit und Einfallsreichtum, aber völlig unzureichenden Mitteln die Menschen der Umgebung behandelt. Die Landschaftsbilder von Kameramann Petr Duchowskoj sind ebenso überwältigend wie das Spiel von Hauptdarsteller Oleg Dolin. Wer sich im Werk des großen Michail Kalatosow auskennt, wird beispielsweise bei »Das Salz Swanetiens« die geistige Verbindung mit seinem Enkel Michail erkennen.
Ein heißes Eisen packte Erfolgsregisseur Alexander Utschitel an (der schon vor fünf Jahren in Cottbus einen Preis errang). Eine Geschichte von Wladimir Makanin und Timofeja Dekina führt in den russisch-tschetschenischen Krieg. In einem russisch besetzten tschetschenischen Dorf wird fraternisiert, aber zwei Soldaten erhalten den Auftrag, mit einer versprengten Einheit Kontakt aufzunehmen. Ein junger Tschetschene soll ihnen durch die zerklüfteten Berge den Weg weisen. Auf dem gefährlichen Weg wächst Sympathie zwischen den Feinden. Doch der Zuschauer ahnt, daß diese Geschichte so oder so tragisch enden muß. Utschitels Film zeigt die menschlichen Seiten der verfeindeten Parteien. Werden die Partisanen zu sympathisch oder die Besatzer? Wird der unversöhnliche Konflikt durch einen solchen Film aufgeweicht? Hauptdarsteller Wjatscheslaw Grekunow, der den Film in Cottbus vertrat, nannte als Intention der Filmemacher zu zeigen, daß der Konflikt nicht unversöhnlich bleiben muß.
Den dritten Preis vergab die Jury unter Leitung des polnischen »Oscar«- Preisträgers, des Szenenbildners Allan Starski, an Drehbuchautor und Regisseur Michal Rosa für den polnischen Film »Der Riß«. Eine Hochschullehrerin, Tochter eines einstigen Oppositionspolitikers, muß sich nach vierzigjähriger Ehe dem Verdacht stellen, daß ihr Mann sie im Auftrag der Sicherheitsbehörden geheiratet hätte. Der Gedanke macht sie krank. So intensiv diese Geschichte auch gespielt und in der Ausgangssituation stimmig war, so trat sie nach kurzer Zeit auf der Stelle – ein Manko, das dem nun ausgezeichneten Autor anzulasten war.
Ein anderer, wesentlich spannenderer Film, in dem die Helden etwas über die politische Vergangenheit herauszufinden suchten, war der deutsche Beitrag »Novemberkind«. In dem Film des von Rügen stammenden Regisseurs Christian Schwochow wird eine junge Frau (Anna Maria Mühe) damit konfrontiert, daß ihre Mutter nicht gestorben sei, sondern nach einer Flucht in den Westen verschollen blieb. Der Film, über den noch ausführlicher zu sprechen sein wird, erhielt zu Recht den Förderpreis der DEFA-Stiftung.
Das Cottbusser sei das zweitwichtigste deutsche Filmfestival, erklärte der Schirmherr des Festivals, Außenminister Frank-Walter Steinmeier, in seiner Eröffnungsansprache. Diese Erkenntnis hatte er aus der amerikanischen Fachzeitschrift »Variety«, die vor einigen Monaten in der Auflistung der fünfzig wichtigsten Branchentreffen des Films nur zwei deutsche Festivals berücksichtigte: die Berlinale und eben – Cottbus! Das hängt sicherlich einerseits mit dem einzigartigen Profil zusammen, denn nur in Cottbus liegt der Schwerpunkt auf Osteuropa, aber mit einer Vernetzung mit dem mitteleuropäischen (und teilweise auch asiatischen) Film.
Auch im Umfang will das relativ kleine Festivalteam um den Chef Roland Rust der Berlinale nacheifern. Es gab neben dem Spielfilm- auch einen Kurzfilmwettbewerb, Informationsprogramme und eine Reihe für Kinder- und Jugendliche. Der Ehrenpräsident des Festivals, der ungarische »Oscar«-Preisträger István Szabó, und sein tschechischer Freund und Kollege Jiri Menzel wurden anläßlich ihrer 70. Geburtstage in diesem Jahr mit der Aufführung ihrer jüngsten Filme geehrt. Während Menzels »Ich habe den englischen König bedient« in unsere Kinos gefunden hat, ist Szabós »Verwandte« hier noch unbekannt. Mit großartigen Schauspielern wie Sándor Csányi, Oleg Tabakow und Károly Eperjes hervorragend besetzt, erzählt Szabó nach einer vielgelesenen Erzählung von Zsigmunt Moritz in opulenter Ausstattung eine Geschichte aus den zwanziger Jahren um Machtmißbrauch, Verführung, Schuld und Korruption. Man muß dem Cottbusser Festival dankbar sein, daß diese bissige Anmerkung zur Gegenwart wenigstens hier zum deutschen Publikum findet.
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