von Stefan Bollinger
Es war noch einige Tage zu früh, noch hatte der Indian Summer nur sehr sparsam das farbenfrohe Aufleben der Natur vor dem eisigen Winter angekündigt. Ein solches letztes Aufflammen wäre eine gute Begleitung einer Konferenz zur Transformation der Geschichtswissenschaften in Ostdeutschland seit 1990, die kürzlich in Potsdam im Staate New York stattfand. An ihr nahmen US-amerikanische, kanadische, ostdeutsche und deutsch-amerikanische Historiker teil, westdeutsche Kollegen hatten sich nicht einladen lassen.
Die Bilanz seit 1989/90 ist von Anbeginn an zwiespältig. Da gab es inmitten einer Krise auch intellektuellen Aufbruch, auf einmal konnten DDR-Wissenschaftler jenseits von Tabus denken, lehren, forschen, strukturieren, selbst verwalten. Nur dummerweise wollten dies nicht wenige von ihnen in einer erneuerten DDR, zumindest in einem erneuerten, sozialeren und demokratischeren Gesamtdeutschland. Sie waren also – so einhellige Westmeinung – böse Kommunisten geblieben.
Konrad H. Jarausch, der an einer Geschichte der Humboldt-Universität nach 1945 schreibt, erinnerte an die Wahl Heinrich Finks zum Rektor dieser Universität und an die spätere Präsidentin Marlis Dürkop. Sie mußten, so vermutet er (und es war nicht zu entscheiden, ob machiavellisch oder bedauernd gemeint) scheitern – und damit auch die Selbsterneuerung der Universität: weil sie gegen westliches Establishment standen und der politischen Opposition zugerechnet worden seien. Vielleicht hat Jarausch mit dieser Beschreibung ins Schwarze getroffen, denn gerade unter »Ostintellektuellen« gab es viele, die sich nicht automatisch in ein neues System einbinden ließen. Anschaulich berichteten Ludwig Elm, Werner Röhr, Jörg Roesler, Rainer Schnoor und Axel Fair-Schulz (letzterer in Potsdam/NY lehrend) über Hoffnungen, Evaluationen, Abwicklungen und Inbesitznahme.
Von Ausnahmen abgesehen, war es das Ende einer sozialwissenschaftlichen und historischen Forschung und Lehre gestandener ostdeutscher Wissenschaftler. Es war auch der Verlust eines entscheidenden Kettengliedes der methodisch-theoretischen Fundierung einer kritischen, sozial verpflichteten Wissenschaft von der Gesellschaft und ihrer Geschichte. Denn das Aufräumen mit den marxistisch beeinflußten Historikern ging einher mit dem altersbedingten Ausscheiden auch der westlichen 68er Professorengeneration. Dies sehen Linke sicher schärfer als jene Linksliberalen, die zumindest über das partielle Zurückdrängen der fast zwei jahrzehntelang triumphierenden Politik- und Ereignisgeschichtsschreibung im Totalitarismus-Korsett zumindest erfreut waren, auch wenn sie das Verschieben des Koordinatensystems wohl erahnen. William Pelz (Chicago) zitierte trocken das Filmgleichnis von Krupp und Krause, um zu verdeutlichen, daß der Markt nicht für Linke gemacht und gedacht war. Mario Keßler (zur Zeit New York) und ich suchten den großen Rahmen deutlich zu machen – Keßler den Verlauf der deutschen Geschichtsschreibung seit 1945, ich thematisierte jenen Verlust, der durch das Verstummen ostdeutscher Wissenschaftler in Gesamtdeutschland entstand, einer Stimme, die sozusagen eine linke Korrekturinstanz für einen sich immer mehr entsichernden Kapitalismus hätte sein können. Marucs Aurin (Chicago) hob in diesem Zusammenhang die im Osten als Folge der »Abwicklungen« entstandene Zweite Wissenschaftskultur hervor, die auch zu erneuerter Ostidentität geführt habe und die die Einheit sperrig gestalte.
Angesichts der Abstinenz westdeutscher Kollegen, die gerne die Wissenschaft als Feld einer besonders erfolgreichen deutschen Vereinigung verkaufen, war die Teilnahme von Georg G. Iggers (Buffalo), der einst vor den Nazis nach den USA fliehen mußte, und von Konrad H. Jarausch bemerkenswert. Sie gemahnten ihre Ostkollegen gelegentlich, nicht in Larmoyanz zu verfallen, auch wenn sie dabei die Last der Vergangenheitsbenennung mitunter mit Wehklagen verwechselten.
Die Konferenz erinnerte rechtzeitig vor dem bevorstehenden Einheitsrummel daran, daß es eine Feier der Sieger werden wird, obwohl an diesem Tage auch einer verpatzten antistalinistischen Revolution für eine erneuerte demokratisch-sozialistische DDR zu gedenken wäre …
Meredith Heiser (Palo Alto) präsentierte im Rahmenprogramm den DEFA-Film Das Kaninchen bin ich. Sarkastischer Kommentar eines Amerikaners: »Der Richter, der Intellektuelle als Opportunist – das ist auch uns nicht unbekannt.«
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