von Sibylle Sechtem
Kurt Beck ist weg; Franz Müntefering und Franz-Walter Steinmeier sollen es richten. Sollen die SPD aus der Talsohle der Umfragewerte, die um die 23 bis 26 Prozent pendeln, herausholen. Da muß man nicht zwischen den Zeilen lesen können, um zu erkennen, daß das, was als Befreiungsschlag apostrophiert wird, ein Rückschlag ist. Zurück zu Gerhard Schröder, denn sie beide – Müntefering und Steinmeier – waren die Ko-Architekten der schröderschen Agenda 2010, und diese Agenda stand am Beginn des Abstiegs, der die Sozialdemokratische Partei weiter zu zerreißen droht.
Rückwärts also, wo ein Vorwärts gebraucht wird. Und dieses Rückwärts ist noch fundamentaler, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Denn bei Lichte besehen begann der Abstieg schon früher. Im Jahre 1990, dem »Schicksalsjahr«, war’s, daß die SPD, obwohl in der Opposition, endgültig vergaß, was sie bis dahin trotz manchen Godesberger Hintergedankens immer noch gewußt hatte: daß es Klassen geben könnte in der Gesellschaft. Aus heiterem Himmel war der Mauerfall über sie gekommen, kein Ohr konnte sie da erübrigen im mächtigen Rauschen des Mantels der Geschichte für die mahnende Stimme zum Beispiel ihres Genossen Oskar Lafontaine, der Nachdenklichkeit einforderte und eigene – also: sozialdemokratische – Positionen im Vereinigungs- und Beitritts- und Anschlußgetöse vertreten sehen wollte. Nein, keine Zeit mehr wollte sie verlieren, die SPD, mit dabei sein wollte sie, und so hielt sie – die Freunde des alten Arbeiterliedes »Wann wir schreiten Seit’ an Seit’« mögen mir verzeihen – wie mit bittender Gebärde ihre vollen Hände hin: und zwar der CDU, die in der Noch-DDR am 18. März die Wahlen gewonnen hatte. Hielt die Hände hin zur Großen Koalition, wurde SPCDU – und entmannte sich damit gleich doppelt: im Osten, noch ehe sie überhaupt Profil zeigen konnte, und im Westen, weil ihre Opposition nun keinen Pfifferling mehr wert war.
Im Prozeß der Vereinigung im Osten in der Regierung, im Westen in der Opposition: Spaltung also in einem Prozeß, der Zusammenführung hieß – das war die Quadratur des Kreises, die nur gelingen konnte mit einem neuen Gesellschaftsbild. Nicht Klassen gab es jetzt mehr, die waren Vergangenheit, sondern nur noch: die Guten, die schon immer gut gewesen waren – also: den Westen – und die Schlechten, die schon immer schlecht gewesen waren – also: die SED. Und man selbst, natürlich, war bei den Guten, wo denn sonst. Und hatte, wenn es um wirklich Großes ging, nicht auch früher schon gegolten, 1914 zum Beispiel, daß man keine Parteien mehr kannte, sondern nur noch …?
Die Quittung kam prompt, und sie kam derb. Bei den Wahlen im Dezember 1990, nun zum gesamtdeutschen Parlament, siegten CDU/CSU und FDP mit Längen. Die sozialdemokratische Selbstaufopferung blieb unbelohnt. Der Versuch der SPD, Lehren daraus zu ziehen, verschärfte sich zum klassischen Linienkampf. Man verbiß sich ineinander – und ließ sich zugleich als trauliche Troika fotografieren. Das brachte 1998 den Wahlsieg – und im März 1999 den Eklat. Wieder war es Oskar Lafontaine, dem der Kurs nicht paßte – und sie würden ihn heute nicht so hingebungsvoll verteufeln, wenn es nur ihm allein so gegangen wäre. Nein, die SPD, die nun die Schrödersche hieß, war vielen zu weit weg von der Sozialdemokratie – so weit, daß es schon 2002 die Regierung gekostet hätte, wenn nicht die Elbe mit einer Sintflut eingesprungen wäre. 2005 aber half selbst Biblisches nicht mehr. Die SPD war unerkennbar geworden, der CDU so ähnlich, daß die Große Koalition als etwas ganz Natürliches erschien.
Und mit dieser Natürlichkeit gehen sie auch ins Wahljahr 2009 – SPD und CDU gleichermaßen. Oder glaubt wirklich jemand, Kanzlerin und Außenminister würden in harten Wahlkampf miteinander treten? Warum sollten sie das tun? Es gibt doch immerfort »Großes« zu bewältigen, bei dem die Parteienvielfalt nur lästig ist. Die Globalisierung, der Kampf gegen den Terror, die endgültige Verjagung des Nostalgiegespenstes SED – das sind Aufgaben, die schultert man lieber mit Zwei-Drittel-Mehrheit. Dann ist auch alles andere leichter. Die 2,5 Millionen in Armut lebenden Kinder – sie sind ja doch nur eine Minderheit. Und die Hartz-IV-Empfänger und Lohnaufstocker und Leiharbeiter und am Existenzminimum sich entlang hangelnden Rentner sowieso. Und ist es nicht das ewige Credo der Demokratie, das Mehrheiten entscheiden – und die Minderheiten sich bescheiden sollen?
Außerdem ist in der SPCDU die Planung leichter. Alles kann so bleiben wie bisher. Für die SPD ist es egal, ob sie mit 24 oder 30 oder gar 32 Prozent auf Platz zwei landet. Niemand muß sich Sorgen machen um seinen Minister- oder Staatssekretärs- oder Abgeordneten- oder sonstigen Posten. Niemand auch um kleinere Parteien als Bündnispartner werben, wobei man sich ohnehin nur schlimme Beulen holt. Es hat sich alles so schön eingespielt. Auch in der Zeitungslandschaft übrigens, wo man schon lange kein sozialdemokratisches Blatt mehr finden kann. Oder in den Rundfunkanstalten, wo mit SPCDU der Parteienproporz endgültig zur Farce verkommt. Und erst recht in den Universitäten, wo von den linken Lehrstühlen der bundesdeutschen Vergangenheit nur noch ein Bruchteil vorhanden ist. Vereinfachung, wohin man schaut.
Dumm ist nur, daß die Gesellschaft nicht spurt. Sie sind nicht verschwunden, die Klassen, haben sich nur eine Weile getarnt. Je stärker sich die SPCDU formiert, desto geringer wird die Zustimmung der Deutschen zur herrschenden Wirtschaftsordnung. Nur noch ein Drittel der Bevölkerung meint, die Verhältnisse hätten etwas mit sozialer Marktwirtschaft zu tun. Und der Rückgang der Wählerzahlen zeigt, wie das Vertrauen in die Parteiendemokratie erlischt.
Nein, nicht: erlischt – ausgetreten wird. Und dann?
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