Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 15. September 2008, Heft 19

Rückkehr der Frühzeit

von Erhard Weinholz

In den achtziger Jahren schienen mir die Fünfziger, die Zeit meiner frühen Kindheit, sehr weit zurückzuliegen. Geredet wurde bei uns wenig über jene Jahre, und nur weniges im Haushalt meiner Eltern erinnerte an sie: einiges Geschirr, zerkratztes, angeschlagenes Steingut zumeist, drei Dutzend Bücher, der »Rossini«-Großsuper aus dem Jahre 1958, dessen Röhren allmählich schlapp machten und der daher ins einstige Kinderzimmer verbannt worden war. Auch im öffentlichen Raum waren die Fünfziger nicht sonderlich präsent, am deutlichsten mit den Bauten der Stalinallee, die längst nicht mehr als Vorbild galten, und ein paar Losungen, die zu entfernen wohl zu mühsam gewesen wäre: »Vorwärts zur Erfüllung des ersten Fünfjahrplans!« war auf dem dunkelroten Klinker eines Bahnhofsgebäudes im Berliner Umland zu lesen.
Einmal hatte es in diesem Jahrfünft eine Störung des Aufbauwerks gegeben: Provokateure, so war in den Geschichtsbüchern zu lesen, hatten im Sommer 1953 das Volk gegen die Regierung aufgehetzt; Soldaten der befreundeten Besatzungsmacht unterbanden das Treiben. Genaueres war darüber nicht zu erfahren. Die Unterlegenen schwiegen; sie auszufragen kam mir nicht in den Sinn. Aber auch die Sieger sprachen nur ungern von diesem 17. Juni; nie ist er als Siegestag gefeiert worden. Diese Jahre nun galten als frühe Kampfzeit mit einigen Überspitzungen, inzwischen fast schon belächelnswert.
Doch es sollte damals auch in der DDR politische Säuberungen gegeben haben, grundlose Entlassungen aus dem Amt, Inhaftierungen sogar; der eine oder andere aus meinem Freundeskreis hatte gelegentlich von solchen Schicksalen gehört. Mehrmals in der Woche ging ich damals, in den späten Achtzigern, in den Zeitungslesesaal der Deutschen Staatsbibliothek, saß dort auf einem der hochlehnigen Stühle und studierte die alten Nummern des ND.
Es war sehr still in diesem Saal, stiller noch als in den anderen großen Arbeitsräumen im Hause. Manchmal aber war Marschmusik zu hören, schrilles Pfeifen, dumpfes Trommeln: Eine Einheit des Wachregiments »Feliks Dzierzinski« zog unter den Fenstern entlang zum Mahnmal Unter den Linden. Hatte Schirdewan, der im Februar ‘58 aus dem Machtzentrum entfernt worden war, tatsächlich Ulbricht stürzen wollen? Und wenn ja, warum? Was war im Juni ‘53 im Politbüro passiert? Wer war in den frühen Fünfzigern verantwortlich gewesen für die Repressionen? Ich tippte, wie sich später zeigte, zu Recht, auf Hermann Matern, den Chef der Zentralen Parteikontrollkommission. Wie ein Entdeckungsreisender kam ich mir vor, unterwegs in einem vernebelten Gelände, für das sich außer mir kaum jemand zu interessieren schien.
Einst, gegen Schirdewan und andere, hatte Honecker sich als junger Mann Ulbrichts bewährt: Er hatte vor dem Zentralkomitee die Anklagen gegen sie formuliert. Im Sommer ‘89 ging seine Zeit zu Ende. Es war ein warmer, unruhiger Sommer. In Polen und Ungarn waren die Verhältnisse beunruhigend in Bewegung geraten: Der Sozialismus schien dort fast schon passé zu sein. Unser Land sah aus wie immer, unterirdisch aber hatten sich auch hier die Gewichte bereits verschoben. Im Herbst stürzte die alte Ordnung um. Zu dieser Zeit begannen Relikte der fünfziger Jahre Stück für Stück wieder zutage zu treten. Am Bahnhof Friedrichstraße war seit langem eine große, blaue Glasplatte mit Interflug-Werbung zu sehen gewesen. Sie wurde zertrümmert, ein älteres Keramikrelief kam darunter zum Vorschein: Zwei Frauen am Schminktisch warben für eine längst verschwundene Kosmetikfirma. Am Alex riß man an einem der S-Bahn-Bögen eine Wand nieder, eine andere wurde dahinter sichtbar, mit vermauerter Tür, vermauertem Fenster, darüber die Inschrift »HO-Bockwurststube«. In den Sperrmüllcontainern lagen Stalins Werke, der »Kurze Lehrgang der Geschichte der KPdSU (B)«, Wyschinskis Gerichtsreden, Berijas Bericht an den XIX. Parteitag, Bücher, von denen ich gedacht hatte, sie seien schon mehr als dreißig Jahren zuvor ausrangiert worden.
Das meiste davon kam nur kurze Zeit an die Oberfläche, verschwand dann für immer. Anderes erschien und blieb: Jankas »Schwierigkeiten mit der Wahrheit«, Justs »Zeuge in eigener Sache«. Mir vertraute Hoffnungen und Ideen fand ich in diesen Erinnerungen der inhaftiert gewesenen 56er. Die Zahl der Zeitzeugen, die sich zu Wort meldeten, wuchs rasch, Dutzende von Historikern haben seitdem über die Fünfziger geschrieben, Ausstellungen widmeten sich ihnen mehr als jedem der Jahrzehnte danach. Mit ihren Stalin-Bildern verdunkeln diese Jahre nun selbst noch die Achtziger, die Zeit unserer kleinen Freiheiten.