Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 15. September 2008, Heft 19

Reise in die Urzeit

von Wladislaw Hedeler

Mit dem Angebot, eine Reise in die Urzeit zu unternehmen, lockt das Naturkundemuseum in der mongolischen Hauptstadt Ulan Bator zahlreiche Besucher an. Wer keine Zeit oder nicht das nötige Geld hat, in die Nähe der Ausgrabungsstätten in der Gobi-Wüste zu gelangen, kann sich in den Sälen die Saurierexponate anschauen. Ineinander verbissene Echsen, Sauriereier aller Größen und Formen, Abdrücke der Spuren, Skelette, verkieselte Baumstämme … Die letzten Fundstücke, darunter viele Oberflächenfunde, stammen aus den neunziger Jahren. Hoffentlich bleiben die noch ungehobenen Schätze in der Mongolei, denn wie es um die Begehrlichkeiten von Sammlern steht, ist bekannt. Besonders gut erhaltene Abdrücke der Echsenspuren sind bereits herausgesägt, die dicksten Baumstämme abtransportiert, außer Landes verbracht und auf Wunsch zahlungskräftiger Kunden zu Tischplatten verarbeitet worden.
Doch die boomende Metropole im Talkessel des Bogd-Uul-Gebirges hat noch mehr zu bieten. Beim Gang durch die Stadt stößt man auf buddhistische Tempelanlagen, säulenverzierte administrative Gebäude aus den fünfziger und Plattenbauten aus den achtziger Jahren, wie man sie aus sowjetischen Städten kennt. Hinzu kommen die in den letzten Jahren errichteten Hochhäuser, wie sie in jeder westlichen oder asiatischen Metropole stehen. Wie in den benachbarten russischen oder kasachischen Städten sind Erdgeschoßwohnungen zu Geschäften, Apotheken oder Pfandleihen umfunktioniert worden. In den Straßen tiefe runde Löcher, »Höhlen«-Eingänge, die fehlenden Gullideckel sind längst als Schrott verhökert. In einigen dieser Höhlen übernachten Straßenkinder.
Auf den Märkten und an den Ausfallstraßen bieten Handwerker ihre Dienste an, Baumaschinen aller Art können gleich mit dem Fahrer gemietet werden. Allerorts Schuhputzer. Und alte Männer, die Passanten drängen, sich wiegen zu lasse. Ein ungewohnter Anblick sind die Telefonapparate in den Kiosken, Handys sind nicht für alle erschwinglich.
Sogar von den umliegenden Bergen und von den Hügeln am Fernsehturm ist nur schwer auszumachen, wo Ulan Bator, die Stadt ohne Straßennamen und Hausnummern, eigentlich endet und wo das Umland beginnt. Irgendwann verschwimmen die weißen Kreise der Jurten im Smog oder lösen sich im Dunst am Horizont auf. In der Touristeninformation, in der Hauptpost und in den Museumsshops liegen Flyer aus, mit denen als besonderes Event die Rückkehr von Tschingis Khans Reiterarmee beworben wird. Für rund fünfzig Dollar wird – eine knappe Autostunde von der Hauptstadt entfernt – ein Spektakel angeboten. Es ist laut, heiß, stickig, und Auto folgt auf Auto. Japanische PKWs haben die russischen Jeeps, Busse und Lastwagen aus dem Stadtbild verdrängt. Wie dringlich der Straßenbau ist, erfährt im wahrsten Sinne des Wortes jeder, der aus der Stadt herausfährt. Einst an der Peripherie gelegene Industriebauten und Kraftwerke befinden sich heute im Weichbild der Stadt.
Hat man die Mautstellen an den Ausfallstraßen passiert, geht die Teerstraße auch bald in die Schotterpiste über, die sich ihrerseits in der Steppe verliert. Von hier an gibt es nur noch Richtungen. Staubwolken hängen in der Luft, wer kann, fährt nicht in der Kolonne, sondern versetzt zum Vordermann. Ein für die nächsten zwanzig Jahre erstellter Plan sieht vor, alle Verwaltungszentren durch befestigte Straßen miteinander zu verbinden.
Während der in zwei Wochen zurückgelegten knapp anderthalbtausend Kilometer habe ich höchstens drei Wegweiser gesehen, offenbar sind natürliche Orientierungspunkte sicherer. Wenn Fahrer dennoch nicht mehr weiterwissen, können nur noch Einheimische weiterhelfen. Irgendwann tauchen ja immer eine oder mehrere Jurten auf. Manchmal stehen ein Sonnenkollektor und eine Satellitenschüssel daneben. Mongolische und auch russische oder chinesische Programme sind unter dem grandiosen Sternenhimmel immer zu empfangen.
Herden von Ziegen, Schafen, Pferden, Rindern, Yaks, vereinzelt auch Kamele ziehen auf Futtersuche durch die Täler. Den Boden bedeckt Vulkangestein, es ist deutlich zu erkennen, wo die Lavaströme erkaltet sind. Wie hoch das Wasser in den fischreichen Flüssen in den Canons sonst steht, erkennt man an den ausgespülten Höhlen an dessen Biegungen. So sind um diese Jahreszeit wenigstens die Flußdurchfahrten kein Problem. Sandstein-, Schiefer-, Basaltfelsen wechseln einander ab, eintönig ist die Landschaft nie. In den Hochlagen blühen Edelweiß und Enzian, zwischen Lärchen und Zedern duftet es nach Walderdbeeren und Thymian. Einige der langgezogenen Täler sind zu Naturschutzgebieten erklärt oder für den Tourismus erschlossen worden. Die Übernachtung in einem Jurtencamp ist erschwinglich, heißes Wasser und Tee sind im Preis inbegriffen.
Solch ein Camp, eine Tagesreise von Ulan Bator entfernt, war das eigentliche Ziel meines Mongolei-Aufenthaltes. Eine Schulfreundin, die seit zwanzig Jahren in Ulan Bator arbeitet, hatte mich zu ihrer Hochzeit eingeladen. Land und Leute kennt sie schon aus der Zeit, als ihr Vater dort den Bau eines Fleischkombinates leitete. So war es für mich und andere aus Deutschland angereiste Hochzeitsgäste möglich, einen – zugegeben winzigen – Einblick in das Alltagsleben der »Stadtmongolen« und der Nomaden zu erhalten.