von F.-B. Habel
Das Erinnern ermöglicht das Leben, indem es die
Gegenwart mit dem Lichtschein der Vergangenheit umgibt.
Orhan Pamuk
Um die Erinnerung wachzuhalten, sind Menschen nötig, die sie weitergeben, und solche, die sie weitertragen wollen. Es ist höchste Zeit für Befragungen von Zeitzeugen der Jahre der Emigration während der Nazi-Herrschaft. Achim Engelberg hat sie genutzt. Er ist in die Abgründe des 20. Jahrhunderts gestiegen, hat Lebensgeschichten aufgezeichnet, wie sie spannender kaum sein können. Für sein Buch Wer verloren hat, kämpfe hat Engelberg sechzehn Kommunisten und Sozialdemokraten befragt, die verschiedene Wege der Emigration gehen mußten. Ernst Engelberg, der Vater des Autors, war ebenso wie Edzard Reuter in der Türkei. Mehrere Lebenswege wurden durch den Stalinschen Terror in der Sowjetunion geprägt, darunter die der Jungkommunisten Werner Eberlein, Wolfgang Ruge und Markus Wolf. Gerhard Leo kämpfte in der Résistance, Kurt Julius Goldstein, der Spanienkämpfer, wurde an Deutschland ausgeliefert und überlebte die Schrecken von Auschwitz.
Engelberg läßt seine Zeitzeugen ausführlich zu Worte kommen, kommentiert sparsam, weist aber immer wieder auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Biographien hin. Während Emigranten aus der Sowjetunion in der DDR lange über negative Erfahrungen schwiegen, setzte sich die Sozialdemokratin Susanne Miller, die nach Großbritannien emigriert war, für die Aufklärung stalinscher Repressionen ein.
Diesem Buch, das so viele Schicksale erzählt, die mit europäischer Politik der Mitte des vergangenen Jahrhunderts verknüpft waren, ließ Achim Engelberg ein weiteres über Grenzgänger folgen. In Wo aber endet Europa? sucht er europäische Intellektuelle auf, die Grenzgänger zwischen den Kulturkreisen waren. Unter ihnen ist auch der namhafte bulgarische Autor Angel Wagenstein, bei uns durch seine Filme bekannt, die er für Konrad Wolf schrieb. Er hat im Krieg als Partisan gekämpft, später als Reporter über das kriegszerstörte Vietnam berichtet. Engelberg sprach mit Antony Beevor, der die Schlachten des Zweiten Weltkriegs analysierte, und mit Gitta Sereny, die die Nazi-Herrschaft in Wien miterlebte und später ausführliche Gespräche mit den Tätern führte.
Die Gesprächspartner von Achim Engelberg, fast alle im europäischen Osten bis hin nach Athen und Ankara, geben viele Denkanstöße, haben einen Blick auf Vergangenheit und Gegenwart, der sich an dem in vielen Medien verbreiteten Zeitgeist reibt. Wir erfahren aufschlußreiche Anekdoten, etwa von der Beziehung zwischen dem Literaturwissenschaftler Werner Mittenzwei und dem DDR-Kritiker Rudolf Bahro, oder hören vom griechischen Regisseur Theodorus Terzopoulos, welch großen Einfluß das Berliner Ensemble für die Politisierung seiner weltweit anerkannten Inszenierungen antiker Stoffe hatte.
In diesem zweiten Buch gestattet sich Achim Engelberg stärker feuilletonistische Abschnitte, die dem Lesefluß zugute kommen – der Schritt vom Bericht zur Literatur ist hier auf angenehme Weise vollzogen.
Achim Engelberg: Wer verloren hat, kämpfe, 14,90 Euro; Achim Engelberg: Wo aber endet Europa? Beide Karl Dietz Verlag Berlin, 16,90 Euro
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