Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 18. August 2008, Heft 17

Shalom heißt Frieden

von Peter Petras

Rolf Verleger ist Psychologe und Professor für Neurophysiologie an der Universität Lübeck. Er wurde einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, als er als Direktoriumsmitglied im Zentralrat der Juden in Deutschland und Vorsitzender der Jüdischen Gemeinschaft Schleswig-Holstein im Sommer 2006 die Kriegspolitik und Kriegsführung Israels gegen den Libanon kritisierte und schließlich eine Änderung der Politik der Bundesrepublik Deutschland gegenüber Israel einforderte.
Im August 2006 gab er einen Brief an die Presse, den er zuvor an die Präsidentin des Zentralrates und die Kollegen des Direktoriums geschickt hatte. Darin verwies er auf den alten Konflikt zwischen der jüdischen Religion und dem Nationalismus, der sich mit dem Aufkommen des Zionismus noch verstärkt habe. Bereits in der Thora – in der christlichen Überlieferung sind dies dann unter anderem die Fünf Bücher Moses – stehe der Satz: »Liebe Deinen Nächsten wie dich selbst«. Der Rabbi Hillel (geb. 70 v. u. Z.) hätte diese Weisung in der Formulierung: »Was dir verhaßt ist, tu deinem Nächsten nicht an« als den Kern der Thora, der jüdischen Religion bezeichnet.
Dem stehe gegenüber, so schrieb Verleger in jenem Leserbrief: »Heutzutage haben leider viele Juden diesen Maßstab verloren und denken, man sei ein um so besserer Jude, je entschiedener man für Israels Gewaltpolitik eintritt«, und folgerte: »Die israelische Regierung braucht unsere Solidarität. Im Moment ist sie auf einem falschen Weg, daher braucht sie von solidarischen Freunden jetzt nicht mehr Waffen oder mehr Geld oder mehr public relations, sondern mehr Kritik.«
In diesem Sinne initiierte er im September 2006 die Berliner Erklärung mit dem Titel Shalom 5767, nach dem neuen Jahr 5767 des jüdischen Kalenders, die 71 jüdische Erstunterzeichnende hatte und schließlich über 14000 Unterschriften. Darüber sprach er auf dem Friedenspolitischen Ratschlag in Kassel im Dezember 2006. Der Vortrag hatte den Titel: Ist Nächstenliebe antisemitisch? Im Grunde ist dies auch die übergreifende Frage des kürzlich erschienenen Buches, in dem Verleger seine kritische Sicht auf die Lage ausführlicher und unter Hinzuziehung vieler Zeitdokumente begründet. Neben der Erklärung ist dort auch der Text abgedruckt, den Kurt Goldstein, einer der Erstunterzeichner, in der Jüdischen Zeitung 1/2007 veröffentlicht hatte. Darin hieß es: »In Wirklichkeit sind wir, die die ›Berliner Erklärung‹ verfaßt und unterzeichnet haben, die Vertreter einer friedlichen Zukunft Israels, während diejenigen, die alles, was Israel macht, verteidigen, das Land gefährden.« In diesem Sinne kritisiert Verleger den »Irrweg« Israels.
Das Buch beginnt mit persönlichen, biographischen Erinnerungen. Auch der größte Teil der Familien seiner Eltern ist von den Deutschen in der Nazizeit umgebracht worden. Zu diesem Kapitel mit der Überschrift: »Wisse, woher Du kommst …« gehört jedoch auch eine kritische Sicht auf die Geschichte des Zionismus und Israels. Theodor Herzl, der Begründer des Zionismus, wollte nicht die Verdrängung der arabischen Bewohner von Palästina, sondern ein gleichberechtigtes Zusammenleben. Diskriminierungen und feindselige Akte gegen die arabischen Palästinenser gab es jedoch bereits zwischen 1890 und 1913, also vor dem Ersten Weltkrieg und lange bevor Hitler deutscher Regierungschef wurde. »Israels Politik setzt diese Linie fort. Das Nazi-Argument bietet eine willkommene Ausrede, dies weiter zu tun.«
Nach der Zerschlagung des Osmanischen Reiches stand Palästina unter britischer Kontrolle. »Die arabische Welt war entsetzt über die Balfour-Deklaration. Araber hatten mit britischer Unterstützung gegen das Osmanische Reich revoltiert, aber die Einrichtung des palästinensischen Mandatsgebiets und die Abgrenzung einer britischen und einer französischen Einflußsphäre … machten die arabischen Hoffnungen auf eine staatliche Wiederauferstehung zunichte.«
Damit war der Keim zu den folgenden Fehlentwicklungen gelegt. Hier setzt sich Verleger mit dem üblichen Argument auseinander, die arabische Bevölkerung hätte »auf Geheiß ihrer Muftis« freiwillig ihr Land verlassen. Vielmehr hatten bewaffnete zionistische Gruppen in Deir Yassin, am Standtrand von Jerusalem, ein Massaker an etwa einhundert Dorfbewohnern verübt, einen Monat vor Beginn des Krieges von 1948. Vier Tage später massakrierten arabische Kämpfer einen jüdischen Sanitätstransport, mit über siebzig Toten.
Doch das »Signal von Deir Yassin« wurde verstanden, viele Araber flüchteten. Anschließend brachen die arabischen Nachbarstaaten einen Krieg vom Zaune, der 1949 mit einer Vergrößerung des israelischen Staatsgebietes gegenüber dem ursprünglichen UNO-Beschluß endete. 1956 beteiligte sich Israel an dem Krieg Großbritanniens und Frankreichs gegen Ägypten. 1967 siegt es im Sechstagekrieg gegen die Nachbarländer, und seither gibt es das Problem des israelischen Besatzungsregimes im Westjordanland und im Gazastreifen.
Im dritten Teil seines Buches setzt sich Verleger mit dem Vorwurf auseinander, Kritik an der Politik Israels sei »Antisemitismus«. Zunächst lehnt er bereits diesen Terminus ab. Dieses Wort sei nur erfunden worden, um »dem ordinären Haß gegen Juden einen wissenschaftlichen Anstrich« zu geben. In Wahrheit gehe es immer um Fremdenhaß. In diesem Zusammenhang erinnert er an den früheren Vorsitzenden des Zentralrates der Juden, Ignatz Bubis. Als der 1992 angesichts des Pogroms gegen Vietnamesen nach Rostock eilte, um gegen die Fremdenfeindlichkeit aufzutreten, beschied man ihm im Rostocker Stadtrat: »Kümmern Sie sich um die Probleme in Ihrer Heimat!«, und er entgegnete: »Dies hier ist meine Heimat!«
Gegenüber der damaligen Situation sieht Verleger einen Bedeutungswandel heute. »Man hat das Gefühl, unsere Offiziellen bemerken nicht einmal, daß es sich bei diesem Haß gegen den Islam um den gleichen Fremdenhaß handelt wie beim Judenhaß.« Wenn statt dessen immer wieder vom »Antisemitismus« geredet wird, tut man nicht nur so, als ginge der Fremdenhaß die Juden in Deutschland nichts mehr an. Es wird vielmehr so getan, als gäbe es einen »ewigen« Antisemitismus, der sich nur »neue Formen« suche. Die Folgerung ist dann: »Heutzutage bekämpfen die Antisemiten die Juden nicht mehr dadurch, daß sie sie individuell verprügeln, sondern indem sie ihren Staat zerstören wollen. Antisemiten sind nicht mehr die Nazis und die Rechten, Antisemiten sind die Araber und die Linken.«
Nimmt man diese Perspektive in den Blick, werden manche scheinbar ungewöhnlichen Frontlinien gegenwärtiger politischer und ideologischer Auseinandersetzungen in Deutschland klarer sichtbar. Am Ende aber gilt: Israel muß seinen Frieden mit den arabischen Nachbarn machen und endlich aufhören, die arabischen Palästinenser als Menschen zweiter Klasse zu behandeln. Die Menschenrechte gelten auch für sie.

Rolf Verleger: Israels Irrweg. Eine jüdische Sicht, PapyRossa Verlag Köln 2008, 164 Seiten, 12,90 Euro