von Wolfram Adolphi
Die Kommunisten haben in den letzten dreißig Jahren weit über vierhundert Millionen ihrer Bürger vom Hunger und den täglichen Überlebensängsten befreit.. Die KP hat damit mehr als jede andere politische Kraft der Weltgeschichte für die Verwirklichung des Artikels 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 getan. Dieser Artikel garantiert jedem Menschen das Recht auf Leben. Das ist für uns eine Bagatelle. Uns kommt es auf die politischen Freiheiten an, die heute in China nicht gewährt werden. Aber war es nicht auch in unserer Geschichte so? Stritten Heinrich Heine und Georg Büchner nicht zuallererst für das Recht auf Leben?«
Der diese Sätze im April dieses Jahres zu Papier gebracht hat, ist Georg Blume. Blume berichtet seit 1997 für ZEIT und taz aus Peking, nachdem er zuvor in Paris und Tokio tätig gewesen war. Mit seiner Frau, der Japanerin Chikako Yamamoto, hat er bei Wagenbach 1999 Chinesische Reise und 2002 Modell China veröffentlicht. Bei den März-Unruhen in Lhasa, der Hauptstadt des zu China gehörenden Autonomen Gebiets Tibet, war er derjenige westliche Journalist, der von den chinesischen Behörden als letzter nach Peking zurückgeschickt wurde. Für seine Reportagen über Menschenrechtsverletzungen und Umweltskandale in China hat er 2007 den Liberty Award erhalten.
Ein Mann also, von dem man annehmen darf, daß er weiß, wovon er spricht. Und der seinen Ärger über die westliche China-Berichterstattung vom März und April 2008 nur schwer zurückhalten kann, weshalb er sich entschlossen hat, den hier in Rede stehenden Essay China ist kein Reich des Bösen. Trotz Tibet muß Berlin auf Peking setzen zu verfassen. Dringend notwendig sei dies, betont er, denn »kaum ein westlicher Politiker oder Journalist wagt in diesen Tagen noch, seinen Respekt vor der Gesamtleistung der Pekinger Führung über die vergangene Reformperiode zu äußern«.
Blume wagt es und tut dies in einer bewundernswerten Klarheit. Diese Klarheit gewinnt er nicht, indem er aus der komplexen und höchst widerspruchsvollen Realität »einfache Antworten« herausschnitzt, sondern durch den Mut, die Widersprüche unmittelbar nebeneinander zu stellen. Das Vorgehen der chinesischen Militärpolizei in Lhasa im März ist für ihn »unentschuldbar«, und er präsentiert dafür sehr genaue Belege. Zugleich setzt er sich mit den Forderungen des Dalai Lama auseinander, die er als »ohne jede Rücksicht auf Peking« gestellt charakterisiert, und er verlangt, die chinesische Entwicklung in ihrer Gänze ernstzunehmen, beschreibt sie als »größten Modernisierungsprozeß der Menschheitsgeschichte, mit enormen Rückschlägen wie jetzt in den tibetischen Gebieten, aber auch mit phantastischen Erfolgen, wie zuletzt der Einführung eines neuen Arbeitsvertragsrechts für 800 Millionen Beschäftigte« – von letzterem profitieren natürlich auch Millionen Tibeter. »Ansätze für einen Sozialstaat« sieht Blume heute in China »überall«, denn: »So unkommunistisch sind die Kommunisten noch nicht, als daß sie die Sprengkraft der Klassengegensätze im Kapitalismus komplett unterschätzen würden«. Und so gibt es eben auch diese nur selten einmal ans Licht der westlichen Öffentlichkeit gebrachte Tatsache: »Seit 2005 stehen Chinas Felder ihren Bewirtschaftern steuerfrei zur Verfügung. Betroffen sind mehr Menschen, als in den westlichen Industrieländern leben.«
Chinas Partei- und Staatsführer verwenden, wenn sie die Bevölkerung für ihren Modernisierungskurs mobilisieren wollen, gern das Bild vom schwierigen Langen Marsch, der noch längst nicht zu Ende sei. Die Geschichte des historischen Bezugspunktes dieses Bildes, des Langen Marsches von 1934/36, mit dem sich die Kommunisten auf einem zwölftausend Kilometer langen, vielfach verschlungenen Weg vom Südosten Chinas in den Norden und Nordwesten des Landes dem Zugriff des militant antikommunistischen Diktators Tschiang Kaishek entzogen, tritt uns in neuer Weise in dem Buch der chinesischen Schriftstellerin und Filmemacherin Sun Shuyun Maos Langer Marsch entgegen. Mythos und Wahrheit. Sun Shuyun, nach Studien in Peking und Oxford heute in Peking und London lebend, aufgewachsen mit Sätzen wie »Wenn du etwas schwierig findest, denk an den Langen Marsch; wenn du dich müde fühlst, denk an unsere revolutionären Ahnen«, hat sich 2004 auf den Weg gemacht und diesen Langen Marsch nachvollzogen. Nein, nicht zu Fuß wie die Zehntausenden Kommunisten damals, sondern »weitgehend mit der Eisenbahn und dem Bus«, aber: »Es ist noch immer eine entmutigende Reise, durch Gegenden, die sich bis heute kaum verändert haben – unzugänglich, bitterarm und unterentwickelt«. Um »Überlebende zu finden und ihnen ihre Geschichten zu entlocken«, ist sie »in die entlegensten Ecken« gewandert, »manchmal zehn bis fünfzehn Kilometer pro Tag in Höhen bis zu 6000 Meter«.
Mehr als vierzig Veteraninnen und Veteranen hat Sun Shuyun gefunden – sie sind, wie könnte es anders sein, alle schon um die neunzig Jahre alt! – und zum Erzählen bewogen. »Noch immer«, schreibt sie, »verströmen diese Menschen den Idealismus und Optimismus, der sie einst angetrieben hat«, doch sie hätten sich »auch ihre Zweifel, Unsicherheiten und Ängste bewahrt«, und so könne man »zum Herzen des Langen Marsches vordringen: zu Tapferkeit und Opfern, Rückschlägen und Leid, aber auch zu den Wunden, die sich die Teilnehmer selbst zugefügt haben«. Wie nie zuvor sei ihr bewußt geworden, »warum so viele die kommunistische Sache unterstützten« und »warum viele es nicht taten.«
Mit einer spannend zu lesenden Mischung aus Wiedergabe des Erzählten, Textstellen aus Dokumenten und Zitaten aus früheren Berichten über den Langen Marsch entmystifiziert Sun Shuyun den Langen Marsch, aber sie würdigt ihn nicht herab, verkleinert ihn nicht. Damit unterscheidet sie sich ganz wesentlich etwa von Jung Chang und Jon Halliday, die in ihrer umfangreichen Mao-Zedong-Biographie von 2005 im Langen Marsch nichts anderes sehen wollen als nur ein weiteres Glied in einer langen Reihe von Vorgängen, die sie unter Verzicht auf eine Analyse der Gesamtheit der gesellschaftlichen Bedingungen mit dem Begriff der »kommunistischen Verbrechen« endgültig definiert zu haben glauben (siehe Das Blättchen 25/2005). Sun Shuyun schreibt tatsächlich Geschichte »von unten«, konfrontiert die Schicksale der einfachen Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Marsches mit den Entscheidungen und Machtkämpfen der KP-Führer Mao Zedong, Zhou Enlai, Zhu De, Deng Xiaoping, Zhang Guotao und vieler anderer, und nie verliert sie die tödliche Konfrontation mit Tschiang Kaishek und der Guomindang aus dem Blick.
Auch dann nicht, wenn sie jene Abschnitte des Langen Marsches wieder lebendig werden läßt, die auf tibetischem Gebiet – sei es in der Provinz Tibet selbst, sei es im angrenzenden Grasland von West-Sichuan – lagen. Wie durch die übrige Bevölkerung Chinas ging auch durch die tibetische ein tiefer Riß zwischen Anhängern der Kommunisten hier und Anhängern der Tschiang-Kaishek-Leute da. Die Kämpfe waren unbarmherzig und blutig wie überall. Und die immer wieder ersehnten »einfachen Antworten« sind damals wie heute gar keine.
Georg Blume: China ist kein Reich des Bösen. Trotz Tibet muß Berlin auf Peking setzen, Edition Körber Stiftung (April 2008), 104 Seiten, 9,90 Euro; Sun Shuyun: Maos Langer Marsch. Mythos und Wahrheit. Aus dem Englischen von Henning Thies, Propyläen, Berlin 2008, 382 Seiten, 19,90 Euro
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