von Wolfram Adolphi
Als wir Anfang April in Peking mit Freunden die vierzig Kilometer hinaus zur Großen Mauer fahren, staunen nicht nur wir, die gerade Angekommenen. Auch unsere Gastgeber – sie Deutsche, er Chinese, weltläufig beide und weit herumgekommen, seit Jahren miteinander verheiratet und in einer freundlichen Zwei-Etagen-Wohnung in einem sechsstöckigen Wohnhaus am nordöstlichen Rand der Hauptstadt lebend – glauben, ihren Augen nicht trauen zu können. Dabei sind sie doch die rasanten Veränderungen, die sich in Pekings Stadtbild vollziehen, längst gewöhnt. Neue Einkaufsmalls, neue Unternehmenszentralen, neue U-Bahn-Linien, neue Wohnensembles aus dreißigstöckigen Hochhäusern, ein weiterer Autobahnring – von diesen Bildern lassen sie sich schon lange nicht mehr erschüttern.
Aber hier, auf dem Weg nach Mutianyu, einem der schönsten Große-Mauer-Besichtigungs-Orte – da ist es etwas anderes. Hier ist es die Modernisierung des Lebens selbst, die für Verblüffung sorgt. Denn: Die Pekinger entdecken die Naherholung. Und weil das mit der gleichen Rasanz geschieht wie der Neubau der Stadt, fällt unseren Freunden, die diese Strecke das letzte Mal vor zwei Jahren gefahren sind, nichts Besseres ein als das viel zitierte Bild von den Pilzen, die aus dem Boden schießen, als sie nach jeder Biegung, mit der die Straße dem Tal zwischen den schroffen Berghängen folgt, wieder eine gemütliche Feriensiedlung entdekken. Lauschige Häuschen, Terrassen am Hang, große rote Lampions vor gut besuchten Restaurants, Tische und Bänke im Freien, Kinder auf Ponys und Pferden, überfüllte Parkplätze, ein Pärchen, das mit dem Motorroller unterwegs ist, lange Schlangen an Eisdielen – der Großstädter fährt ins Grüne. Das ist Anfang April zwar erst einmal nur steinig grau und trocken und braun, aber die zarte Wildkirsche blüht, und mittags sind es zwanzig Grad, und so wird – wenn denn genügend Regen kommt – das wirkliche Grün nicht mehr lange auf sich warten lassen.
Der Großstädter fährt ins Grüne – so normal ist plötzlich das Undenkbare. Natürlich gab es vor dreißig Jahren auch schon Ausflüge zur Großen Mauer und Restaurants in den Duft- und den Westbergen – aber nur für eine kleine Zahl von Privilegierten und für die ausländischen Diplomaten, Geschäftsleute und Touristen. Jetzt ist es Normalität. Und entwickelt sich, wie es sich in aufblühender Marktwirtschaft eben entwikkelt. Wir philosophieren darüber in einem Tee- und Biergarten auf grob behauenen Bänken. Die Kellnerin bringt uns zwei Fische – den einen gedünstet, den anderen gebraten –, die wir selbst aus dem Teich hätten angeln können, wenn wir denn geschickt genug gewesen wären, den Haken ohne Schwimmer so vor die hungrigen Mäuler zu hängen, daß sie gar nicht anders können als zuzuschnappen. So aber müssen uns zwei junge, mit Spott nicht geizende Männer zur Seite springen.
Das 300 Jahre alte Dorf Cuandixia, zwei Autostunden nordwestlich von Peking in den Bergen gelegen, soll mit UNESCO-Hilfe als Museum erhalten werden. Auch hier geht es um Naherholung. Die Einwohner haben aus ihren Wohnstätten, die aus zwei oder drei winzigen, von ebenerdigen Wohn- und Wirtschaftsgebäuden umschlossenen Höfen bestehen, Ferienwohnungen gemacht. Zur Attraktion könnte das Spartanische werden: schlafen auf dem kang, dem steinernen, im Winter als Ofen dienenden Bett, Bewirtung mit einfachster – und doppelt wohlschmeckender – Küche, Erholung bei rustikaler Gebirgswanderung. Beim Durchstreifen der schmalen und steilen, oft aus Treppen bestehenden Gäßchen fallen uns ein paar Häuser ins Auge, die von Leuten mit Geld restauriert worden sind. Hier ist das Spartanische schon Vergangenheit. Gut möglich, daß sich Cuandixia in zwei, drei Jahren vom Geheimtipp zur Schicki-Micki-Hochburg wandelt. Die einen werden es feiern, die anderen bedauern. An Besuchern jedenfalls wird es nicht mangeln.
Den Blick fürs massenhaft gewordene Freizeitvergnügen geschärft, entschließen wir uns in Peking zu einem ausgiebigen Kaufhausbummel. Das großstädtisch Normale in Augenschein zu nehmen ist uns wichtig geworden: die jungen Mädchen, wie sie mit Selbstverständlichkeit bei den Schuhanbietern aus aller Welt die Hochhackigen an- und ausprobieren; die jungen Männer, wie sie ihren Freundinnen etwas geniert zu den Miederwaren folgen; die Alten, wie sie im Supermarkt die Tüten mit Tee und getrockneten Pilzen prüfen und skeptisch durch die Abteilung mit neuem Küchengerät wandeln; die Mütter mit Kind, wie sie geübt durch die Regalreihen ziehen, genau wissend, was das Budget hergibt. Modernes Leben wie vielerorts auf der Welt. Anziehend, überwältigend. Und langweilig und beängstigend, wenn von überall her die gleichen Markennamen lächeln. Indes: Warum soll etwas für die Pekinger langweilig sein, nur weil es dasselbe auch in New York, Paris, Tokio und Berlin zu kaufen gibt? Hier ist es neu, hier ist es Aufbruch, hier ist es Freiheit. Und das ist, was zählt.
Und natürlich – ja, natürlich! – ist diese Freiheit nicht die von allen.. Wie auch in New York, Paris, Tokio und Berlin. Denn sie folgt dem gleichen Prinzip – dem der Entfesselung der Marktkräfte. Aber, fragt man uns nach unserer Rückkehr: Muß man das im Falle Pekings nicht viel kritischer sehen? Weil es doch die Kommunistische Partei ist, die das alles lenkt und leitet und einst doch ganz anderes versprochen hat? Wem denn versprochen?, fragen wir zurück. Und wann? Und was denn »ganz anderes«? Was sich hier mit Leben erfüllt, ist das Versprechen des KP-Führers Deng Xiaoping von 1978, das gerichtet war auf das Gegenteil von Gleichheit in Armut und das Gegenteil von »Kulturrevolution«. Und dann machen wir den Vorschlag, die Kommunistische Partei doch einmal bei ihrem chinesischen Namen zu nennen. Dieses Verfahren ist bei der einst von Sun Yatsen gegründeten Staats-Volks-Partei, die man in der ganzen Welt nur als guomindang – oder auch: Kuomintang – kennt, schon immer das übliche, und es hat den Vorteil, daß damit etwas ganz und gar Chinesisches assoziiert wird, etwas, das es sonst in der Welt nicht gibt. Besinnen wir uns also auf diese Methode, dann wird aus der KP Chinas die gongchandang (gesprochen: gungtschandang), und das hilft uns vielleicht, sie von unseren eigenen – höchst unklaren! – Sozialismus- und Kommunismus-Vorstellungen abzukoppeln und neugierig zu sein auf das, was da kommt, anstatt alles schon zu wissen.
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