Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 9. Juni 2008, Heft 12

Fortgesetzter Versuch

von Uwe Stelbrink

Lieber Heerke Hummel, es war wohl im Sommer 2007, da saßen Jörn Schütrumpf und ich auf dem besonnten Bürgersteig vor einem kleinen italienischen Restaurant, und ich sprach die Hoffnung aus, daß es einmal möglich sein werde, mehrere Autoren über einen längeren Zeitraum hinweg Themen von verschiedenen Seiten betrachten zu lassen. Das sollte dem Blättchen ermöglichen, auch einmal Gegenstände zu bearbeiten, die in den berühmten neunzig Zeilen nicht abzuhandeln sind. Ich glaube, ich träumte sogar halblaut von einem »Autorenbeirat« (zugegeben, beim Italiener trinkt man nicht Berliner Leitungswasser). Jörn Schütrumpf war viel zu höflich, um mich aus meinem Tagtraum zu wecken und vertröstete mich auf das nächste Autorentreffen. Das war dann das besagte Jubiläumstreffen und wie erwartet angenehm, locker – und ohne redaktionelle Tagesordnungspunkte.
Nun hat sich aus (m)einer Polemik das, was sonst nur Erhard Crome (und oft mit mehr als neunzig Zeilen) darf, fast von allein ergeben – das ist doch ein Gewinn. Doch die gebotene Kürze macht die Sache nicht leichter. Sie fordern Sachlichkeit ein. Einem inhaltlichen Streit bin ich, wenn ich ihn für nötig halte, nie abgeneigt – und Polemik gibt dem Streit die Würze. Und ich kann auch einstecken; ganz so zurückhaltend mußten Sie mir also nicht entgegnen.
Wir sind uns offensichtlich darin einig, daß sich – sehr verkürzt – das Kapital mangels Renditeaussichten zunehmend aus der Realwirtschaft verabschiedet und statt dessen spekulativ in der Finanzsphäre herumvagabundiert. Da kommt es denn auch endlich zu sich selbst: aus Geld mehr Geld hecken, ohne Umwege über den Reproduktionszyklus.
Die spekulative Blase hat längst jede Bindung zur und jede Deckung durch die reale Reproduktion verloren – gleichwohl wirkt sie auf diese in verschiedenster Weise zurück (die diversen Krisen von Großunternehmen, Wirtschaftszweigen und ganzen Staaten finden ständig vor unseren Augen statt).
Nun könnte man die Sachlage – wieder und noch mehr verkürzt – auch so beschreiben: Mit der 3. industriellen Revolution hat ein Prozeß begonnen, mit dem die warenförmige Reproduktion an ihre objektiven, inneren Grenzen stößt, in die Krise gerät – und schon in der Krise ist. Der ungebrochene Modernisierungsschub in der materiellen Produktion macht lebendige Arbeit in immer größerem Maße überflüssig. Lebendige Arbeit in der materiellen Produktion ist aber die einzige Quelle von Mehrwert. Gesamtgesellschaftlich gesehen, nimmt daher die Menge des produzierten Mehrwerts ständig ab, trotz zugleich wachsenden Reichtums an erzeugten Gütern, das heißt der Wert selbst ist in der Krise. Parallel dazu wachsen ständig die »toten Kosten« – die mittels staatlicher Umverteilung aus sinkender Mehrwertmenge zu finanzierenden Leistungen für Verwaltungsbürokratie, Infrastruktur, Hegemonialpolitik, Ruhigstellung der wachsenden Zahl der aus der Reproduktion Aussortierten und so weiter. Verharrt eine solche Gesellschaft in ihrer warenförmigen Reproduktion – also in ihren Kategorien Wert, Ware, Arbeit und Geld, kurz: im Kapital als gesellschaftlichen Verhältnis –, beraubt sie sich über kurz oder lang ihrer eigenen Grundlage.
Wir sind uns sicherlich auch darin einig, daß das Verständnis der Marxschen Kapitalismusbeschreibung, wie es die historische Arbeiterbewegung pflegte und nach dem es nicht um die Aufhebung von Arbeit und Kapital, den zwei Seiten ein und derselben Medaille, sondern quasi um den »Sieg« der »Arbeit« über das Kapital ging, obsolet geworden ist. Und das nicht nur, weil das klassische Industrieproletariat im Verschwinden ist, sondern weil es eben keine Aufhebung des Kapitalverhältnisses darstellt, wenn man die Medaille einfach umdreht.
Unser Dissens könnte vielleicht so beschrieben werden: Ich teile die Auffassung der Wertabspaltungskritik, daß die systemimmanente Krise der warenförmigen Reproduktion der Gesellschaft nicht mehr behoben werden kann ohne die kritische Aufhebung dieser Reproduktionsweise selbst. An ihre Stelle kann nur die Kooperation freier Produzenten treten, die freilich keine »Volkseigentümer« in gehabter DDR-Erfahrung sein können. Ich kann Ihnen den Weg dahin nicht beschreiben – und sicherlich sind wir von einem allgemeinen Erkennen, daß alle Reformversuche, die Kategorien wie Ware, Arbeit und Geld unangetastet lassen, nur das alte Elend in neuer Form auferstehen lassen, noch so weit weg wie die Erde von der Sonne. Und ich gebe Ihnen völlig recht, daß die Aufhebung der jetzigen Verhältnisse nur eine (welt)gesellschaftliche Aufgabe sein kann – und ich hätte auch die LINKE nicht im Verdacht gehabt, sich mit solcher Fragestellung zu beschäftigen – die ist längst in der systemimmanenten Krisenbearbeitung angekommen und fühlt sich da zu Hause.
Ich bin aber der Auffassung, daß die von Ihnen geforderte »neue Theorie der heutigen Ökonomik« an der aktuellen Aufgabe vorbeigehen muß, wenn sie sich »die Beherrschung ihres Finanzsystems« und die Schaffung einer »wirklichen Leistungsgesellschaft« zum Ziel setzt. Weil Sie damit die Warenform nicht aufheben, sondern im Widerspruch zu deren inneren Triebkräften, die Sie beibehalten, der »Vernunft« unterwerfen wollen, was zwar gut gemeint und noch besser gehofft, aber ein Ding der Unmöglichkeit ist.
Eine kritische Theorie darf sich nicht mit einer Zielsetzung auf das »Machbare« selbst kastrieren. Dann verdient sie den Namen nicht.
Unbeschadet bleiben unser Recht und unsere Pflicht, uns heute gegen die Zumutungen der Krisenverwaltung, gegen Sozialabbau und Privatisierung zu wehren. Aus den Erfahrungen dabei werden auch die Erkenntnisse wachsen, daß und wie die Warenform letztlich überwunden werden kann. Dieser radikalen Aufgabe sollte dann eine neue Theorie der Ökonomie, zumal wenn sie von links kommt, nicht im Wege stehen.

Die Diskussion wird auch unter www.das-blaettchen.de geführt.