Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 23. Juni 2008, Heft 13

Dilemmata

von Erhard Crome

Ist die politische Lage in diesem unserem Lande eigentlich übersichtlich oder unübersichtlich? Übersichtlich ist, daß die sogenannte große Koalition regiert – niemand kann sie stürzen, wenn sie es nicht selbst tut, zum Beispiel an der Personalie Horst Köhler versus Gesine Schwan. Angela Merkel empfängt derweil auswärtige Präsidenten und rettet das Klima. Viel mehr ist derzeit nicht sichtbar. In den Großmedien ist schon mal die Rede davon, Deutschland hätte derzeit keine tatsächliche Außenpolitik, weil sich CDU und SPD gegenseitig blockieren.
Der Potsdamer Politikwissenschaftler Jürgen Dittberner hatte schon vor etwa einem Jahr einen Vergleich der beiden »Großen Koalitionen« von 1966 und 2005 angestellt (Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 35-36/2007). Der größte Unterschied ist wohl der, daß der damalige CDU-Kanzler Kiesinger zum Ende der Legislaturperiode nach einer absoluten Mehrheit schielte – die CDU hatte während der Großen Koalition 245 Abgeordnete in einem Bundestag von 499 Mitgliedern –, während der SPD-Vorsitzende Willy Brandt, unter Kiesinger Außenminister und dann ab 1969 der erste sozialdemokratische Regierungschef der BRD, die Brücke zu einer sozial-liberalen Koalition mit der FDP schlagen wollte. (Zur Erinnerung: Im damaligen BRD-Parlament gab es nur diese drei Parteien.) Die Betonung Dittberners liegt auf: »Ende der Legislaturperiode«. Der Unterschied ist, daß bei der jetzigen Koalition bereits 2007, also in der Mitte der regulären Amtszeit, die Gemeinsamkeiten aufgebraucht waren: Beide Koalitionäre hatten, als Dittberner seinen Text verfaßte, bereits hochoffiziell verkündet, nach der nächsten Wahl »neue Mehrheiten« suchen zu wollen.
Woher aber nehmen? Schwarz-Gelb reicht nach allen Umfragen ebenso wenig wie Rot (SPD)-Grün. Die Versuchsballons steigen von beiden Seiten auf. Gesine Schwan mit oder ohne die Linkspartei; Beck für eine Verbindung mit dieser oder nicht: Auf Bundesebene nicht oder doch oder wie? Inzwischen sind die Grünen als »keinem Lager zugehörig« in Hamburg im Lotterbett der CDU. Derweil will die FDP auch nicht in einem »Lagerwahlkampf« auftreten – welches Lager und welcher Kampf? Ihr Brüderle murmelt in Sachen Ampelei, er kenne den Beck aus der Pfalz.
Roland Koch in Hessen freut sich über Formfehler der nicht geformten »linken« Koalition in der Opposition, die es nicht gibt, aus SPD, LINKE und Grünen.. Wird er diesen Herbst einen Haushalt vorlegen oder nicht? Wird dann die Frage einer anderen Regierung in Hessen stehen und Frau Metzger dann doch Frau Ypsilanti wählen, oder wird es Neuwahlen geben müssen? Funktioniert noch einmal: »Koch muß weg!«, oder mogelt er sich durch den Willen der Bevölkerung hindurch, indem er mittels provozierter Wahlabstinenz – »Frau Ypsilanti kann doch nicht einmal eine Mehrheit sichern, und die Linken können keine Gesetze machen.« – sich dann doch eine numerische Mehrheit von Abgeordneten erschleicht. Was aber würde dies für Angela Merkel in Berlin bedeuten?
Das neue Fünf-Parteien-System schafft Dilemmata für alle Parteien. Die alten Parteiungen funktionieren nicht mehr, und die neuen sind noch nicht konturiert. Mitte Juni wurde die »Sonntagsfrage« wie folgt beantwortet: Bundesweit erhielte die CDU/CSU 33 Prozent, die FDP 13 Prozent (zusammen 46 Prozent); die SPD 24 Prozent, die LINKE 15 Prozent (zusammen 39 Prozent); die Grünen 11 Prozent – das heißt, von ihnen hinge es ab, oder aber die SPD machte die Ampel. Was dann 48 Prozent wären – aber CDU/CSU und LINKE hätten auch 48 Prozent, das heißt, es käme auf die Zehntel und Hundertstel hinter dem Komma an.
Die Bürgerlichen projizieren ihre Dilemmata mangels Alternative weiter auf die Linkspartei. Nach dem Medienauftritt Oskar Lafontaines bei Frau Will Anfang Juni, als er Beckstein dazu brachte, völlig derangiert vor sich hin zu keifen, forderte Tempelhof-Pflüger – der aus der Bundes-CDU in die Berliner Diaspora abkommandierte Zukunftskader – die Ablösung der Sendung oder zumindest der Moderatorin, während die FAZ befürchtete, man werde »die Linke nicht loswerden«.
Die LINKE aber, kann sie frohgemut auf diese Entwicklungen schauen? In der spätbürgerlichen Gesellschaft von heute hat sie auch ihre Dilemmata zu vergegenwärtigen. Das erste ist das Wählerdilemma: Die sie von Herzen wählen, wollen, daß sie auch etwas ändert, weshalb sie auch regieren sollte – ohne dies kommt weder Hartz IV weg, noch ist der Mindestlohn durchzusetzen. Das zweite ist das Minderheitsdilemma: In Sachsen und Thüringen, 2009 wohl auch im Saarland, ist sie stärker als die SPD; im Bund – zumindest 2009 – aber nicht. Dann stellen die Sozialdemokraten den Kanzler, und die LINKE muß sehen, wie sie dabei Profil gewinnt. Als drittes haben wir es mit dem Europa-Dilemma zu tun: Was kann eine »linke« Regierung innerhalb der EU erreichen, wenn die Mehrheit der EU-Länder rechts geführt ist, das Europäische Parlament und die Kommission eine neoliberale Codierung haben und achtzig Prozent der »EU-ropäischen« Regeln aus Brüssel kommen? Dann gibt es viertens das außenpolitische Dilemma: Was tun, wenn die »Bündnisverpflichtungen« in EU und NATO bestimmte Verhaltensweisen einer deutschen Regierung erfordern, die mangels eigener Mehrheit im Bundestag aber nicht auszuhebeln sind – ohne die Koalition zu gefährden, was wiederum die Abschaffung von Hartz IV und die Einführung des Mindestlohns verunmöglichen würde? Fünftens droht das Parteidilemma: Wenn die Fraktion und die Parteiorganisation einseitig auf die Regierungsbeteiligung ausgerichtet werden, drohen der Partei Zahnlosigkeit und Profillosigkeit – und der Wähler fragt sich besorgt, weshalb er denn …? Am Ende steht das Koalitionsdilemma: Der schwächere Partner bezahlt den Preis für die Politik der Koalition.
Besteht er konsequent auf seinen Positionen, moniert der stärkere seine Renitenz und versucht ihn öffentlich für die Unzulänglichkeiten des Regierungshandelns der Koalition verantwortlich zu machen. Unterdessen kritisieren die sozialen Bewegungen das Verbleiben und Agieren in der Koalition – in der Regel unabhängig davon, ob die Partei ihren Prinzipien zu folgen versucht oder ihnen ausweicht.
Als die Grünen den Weg zur Kriegsführungsfähigkeit einschlugen, betonte ihr Fischer, eine Sechs-Prozent-Partei könne nicht erwarten, daß die Mehrheitsverhältnisse ihrem Programm folgen. Eine Fünfzehn-Prozent-Partei dagegen muß sich niemandem andienen. Und sie kann darum ringen, weiteren Einfluß zu gewinnen. Die Geschichte ist offen.