Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 12. Mai 2008, Heft 10

Schlechtwettervariante?

von Jörn Schütrumpf

Vor 65 Jahren, am 13. Mai 1943, tagte das Präsidium des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (Komintern) – zum letzten Mal. Es hatte von seinem Gastgeber, der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, die Anweisung erhalten, nun auch offiziell aufzulösen, was seit 1939 ohnehin nur noch ein Geheimdienst gewesen war: die ehemalige Kampforganisation für eine Weltrevolution, die nach dem Mißlingen der »geplanten« deutschen Revolution vom Oktober 1923 zu einem Instrument der sowjetischen Außenpolitik heruntergekommen war.
Diese internationale Organisation hatte sich einem Sozialismus verschrieben, mit dem die soziale Frage – also die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen – aus der Welt gebracht werden sollte, der in der Freiheitsfrage – also bei der Unterdrückung des Menschen durch den Menschen – aber vor die Französische Revolution zurückgefallen war. Mit Sozialismusvorstellungen eines Karl Marx – auf den sich die Komintern so gern berief – hatte das wenig zu tun. Für Marx war es unvorstellbar, die 1789 erkämpfte formale »bürgerliche« Gleichheit – von der Meinungs- und Assoziationsfreiheit über das Recht auf Eigentum bis zur Unantastbarkeit der Privatsphäre für alle Mitglieder einer Gesellschaft – durch soziale Gleichheitsrechte zu ersetzen; ihm war es stets um die Ergänzung der formalen Gleichheit um soziale Gleichheit gegangen. Rosa Luxemburg verlieh diesem Anliegen 1918 geradezu klassischen Ausdruck: »Wir unterschieden stets den sozialen Kern von der politischen Form der bürgerlichen Demokratie, wir enthüllten stets den herben Kern der sozialen Ungleichheit und Unfreiheit unter der süßen Schale der formalen Gleichheit und Freiheit – nicht um diese zu verwerfen, sondern um die Arbeiterklasse dazu anzustacheln, sich nicht mit der Schale zu begnügen, vielmehr die politische Macht zu erobern, um sie mit neuem sozialen Inhalt zu füllen. Es ist die historische Aufgabe des Proletariats, wenn es zur Macht gelangt, an Stelle der bürgerlichen Demokratie sozialistische Demokratie zu schaffen, nicht jegliche Demokratie abzuschaffen. Sozialistische Demokratie beginnt aber nicht erst im gelobten Lande, wenn der Unterbau der sozialistischen Wirtschaft geschaffen ist, als fertiges Weihnachtsgeschenk für das brave Volk, das inzwischen treu die Handvoll sozialistischer Diktatoren unterstützt hat. Sozialistische Demokratie beginnt zugleich mit dem Abbau der Klassenherrschaft und dem Aufbau des Sozialismus.. Sie beginnt mit dem Moment der Machteroberung durch die sozialistische Partei. Sie ist nichts anderes als die Diktatur des Proletariats.«
Mit diesem Verständnis der Diktatur des Proletariats hatte der Sozialismus der Komintern nichts gemein. Welche Höllen hinter ihrem Sozialismus lauerten, erfuhren nicht zuletzt die Gründer der Komintern – am eigenen Leibe: »Am 19. Januar 1938 begann das Verhör, das ununterbrochen zehn Tage und Nächte dauerte. Ich mußte ohne Schlaf und fast ohne Nahrung die ganze Zeit stehen. Das Verhör bestand in der Erhebung der sinnlosesten Anschuldigungen und wurde durch solche Faust- und Fußschläge begleitet, daß ich nur unter schrecklichsten Schmerzen stehen konnte. Die Haut platzte, in den Schuhen sammelte sich Blut … Im April 1938 transportierte man mich ins Lefortowo-Gefängnis. Hier wurden alle Verhöre mit den schrecklichsten Verprügelungen begleitet, man prügelte mich wochenlang Tag und Nacht. Auf dem Rücken gab es kein Stück Haut, nur das nackte Fleisch. Auf einem Ohr konnte ich wochenlang nichts hören, und auf einem Auge konnte ich wochenlang nichts sehen, weil die Blutgefäße im Auge verletzt wurden. Oft fiel ich in Ohnmacht.«
Diesen Kassiber hatte Hugo Eberlein verfaßt und zum KPD-Vorsitzenden Wilhelm Pieck schmuggeln lassen.. Eberlein war 1919 mit dem Auftrag des Gründungsparteitages der KPD nach Moskau gereist, der Bildung einer Kommunistischen Internationale nicht zuzustimmen – denn die KPD-Gründer, allen voran Rosa Luxemburg, hatten nichts von einer Weltpartei mit W. I. Lenin im Zentrum gehalten. Doch Eberlein ließ sich von seinen Gastgebern umstimmen und ebnete damit der Unterordnung der KPD unter Lenins Partei den Weg. Der zerfolterte Hugo Eberlein wurde am 16. Oktober 1941 in der Nähe von Moskau – beim Herannahen der faschistischen Wehrmacht – vom NKWD erschossen.
Auch nach der Auflösung der Komintern hielten die kommunistischen Parteien weiter an einem Sozialismus mit – bestenfalls – simulierten Bürgerrechten fest, wenngleich das Foltern nach 1953 aus der Mode kam. Erst als 1989 die kommunistischen Parteien von der Macht verjagt wurden, erinnerten sie sich des Erbes der Französischen Revolution und damit der bis dahin verteufelten »bürgerlichen« Gleichheit und Demokratie.
In der DDR rettete im Dezember 1989 ein Sonderparteitag die SED aus der Umarmung Jossif Stalins in die Gemächer Rosa Luxemburgs. Die Delegierten verabredeten einen antistalinistischen Konsens und gelobten Demokratie auf Lebenszeit. In jüngster Zeit mehren sich nun die Anzeichen, daß dies – wenn auch bisher zumeist nur »über Bande« – von den Nachfolgern in ein taktisches Manöver, quasi in eine Schlechtwettervariante »uminterpretiert« werden soll. Immer dreister wird vor allem der antistalinistische Konsens bestritten. Offizielle Gremien dieser Partei mühen sich sichtbar, die DDR-Geschichte in ein mildes Licht zu tauchen; nur einige »Fehler« hätten die gute Sache verunziert. Künftig lautet die Parole: Wir waren nicht alle schlecht! Als wenn es darum ginge. Seit der Bundestagswahl 2005 hat sich das Wetter halt erheblich aufgehellt.
Gegen das neoliberale Freiheit statt Sozialismus hatte auf dem jüngsten Parteitag Oskar Lafontaine mit Freiheit durch Sozialismus polemisiert – sehr zu Recht. Inwieweit der »luxemburgistische« Umkehrschluß Sozialismus durch Freiheit, der seit 1990 aller Programmtik der PDS den Stempel aufdrückte, aber noch gilt, wird möglicherweise schon der am übernächsten Wochenende in Cottbus anstehende erste unquotierte Parteitag der LINKEN zeigen: zurück zum Sozialismusbild der Komintern oder doch ein Sozialismus im 21. Jahrhundert – statt Marxismus vielleicht doch Marx?