von Frank Ufen
Im Jahre 1919 wurde Madame M. in die große Pariser Irrenanstalt Maison-Blanche gebracht und gelangte in die Obhut des Psychiaters Joseph Capgras. Sie behauptete, ihr Mann und ihre Tochter seien verschwunden. An ihre Stelle seien Doppelgänger getreten. Diese Krankheit wurde nach Capgras benannt. Capgras-Patienten glauben, daß Mitglieder ihrer Familie durch menschliche Wesen aus Fleisch und Blut, Roboter oder Aliens ersetzt worden wären. Manche Patienten attackieren ihre Angehörigen und versuchen, sie umzubringen. Andere geben Vermißtenanzeigen auf und tragen Trauerkleidung, obwohl die vermeintlich Verschwundenen noch immer mit ihnen zusammen leben. Wieder andere Patienten sind von der Vorstellung besessen, selbst einen Doppelgänger zu haben.
Dieses Syndrom gibt bis heute Rätsel auf. Bis weit in die siebziger Jahre hinein wurden organische Ursachen kaum in Erwägung gezogen, man zählte die Symptome zur paranoiden Schizophrenie. Capgras selbst schwor auf die orthodoxe Psychoanalyse und behauptete, daß der Erkrankung ein Abwehrmechanismus zugrundeliegen würde. Er solle bewirken, daß den Patientinnen ihre tabuisierten sexuellen Triebwünsche gegenüber ihrem Vater verborgen blieben.
Erst in den achtziger Jahren setzte sich allmählich die Einsicht durch, daß man es mit einer organisch bedingten Geisteskrankheit zu tun hat. Für diesen Befund sprach schon der Umstand, daß mehrere Capgras-Fälle offenbar durch Hirnverletzungen ausgelöst worden waren. Neuerdings macht man für das Syndrom einen gestörten Informationsaustausch zwischen beiden Gehirnhälften verantwortlich. Diese erzeugen demnach derart unterschiedliche Repräsentationen desselben Gesichts, daß das Gehirn sie miteinander nicht mehr in Einklang bringen könne. Die einzige, einigermaßen schlüssige Erklärung, die es finden könne, seien Machenschaften mysteriöser Doppelgänger.
Daneben existiert eine weitere Theorie, bei der von Parallelen zu der von Oliver Sacks in seinem Buch Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte beschriebenen Prosopagnosie ausgegangen wird, also von der Unfähigkeit, Gesichter zu erkennen. Danach verläuft die Gesichtserkennung im Gehirn über zwei voneinander unabhängige Wege. Auf dem einen werde ein Gesicht identifiziert, auf dem anderen werde eine Kopplung zur emotionalen Bedeutung dieses Gesichts hergestellt. Bei Prosopagnostikern sei die Informationsverarbeitung auf dem ersten Weg gestört, bei Capgras auf dem zweiten. Auch an dieser Theorie gibt es jedoch mittlerweile Zweifel. 2002 wurde nämlich der Fall einer blinden Capgras-Patientin dokumentiert.
Ob Alzheimer, Tourette oder Asperger – die Neurologie kennt viele Syndrome, die nach Wissenschaftlern benannt sind. Der Psychologie-Historiker Douwe Draaisma befaßt sich eingehend mit insgesamt einem Dutzend solcher Krankheiten und arbeitet die einzelnen Etappen ihrer Erforschung heraus.
Darüber hinaus macht er mit zwei gängigen, aber irrtümlichen Auffassungen Schluß. So werden Krankheiten in aller Regel nicht auf die Namen derjenigen getauft, die sie entdeckt und als erste ausführlich beschrieben haben. Vielmehr ist es meistens so, daß derartige Eponyme ziemlich willkürlich durchgesetzt werden – und zwar von jenen Wissenschaftlern, die dafür über genügend Macht und Prestige und über ein ausgedehntes Beziehungsnetzwerk verfügen. Jean-Martin Charcot, der berühmte Mediziner und Mentor Freuds, schaffte es seinerzeit sogar, gleich mehrere Eponyme innerhalb des Wissenschaftsbetriebs zu etablieren, darunter Parkinson und das Tourette-Syndrom.
Ebenso falsch ist die Annahme, daß das Wissen über Syndrome, die irgendwann eine Bezeichnung erhalten haben, sich kontinuierlich erweitern müsse. Vielmehr nehmen verschiedene Generationen von Wissenschaftlern ein und dasselbe Phänomen unterschiedlich wahr, weil sie sich an voneinander abweichenden Theorien, Menschen- und Gesellschaftsbildern orientieren. Die Anfänge der modernen Gehirnforschung sind heute weitgehend vergessen.
Douwe Draaisma: Geist auf Abwegen. Alzheimer, Parkinson und Co. Aus dem Niederländischen übersetzt von Verena Kiefer und Stefan Häring, Eichborn Verlag Berlin 2008, 368 Seiten, 19,95 Euro
Schlagwörter: Frank Ufen