von Wladislaw Hedeler
Im ersten veröffentlichten Programm dieser vom Insel-Verlag herausgegebenen Reihe war ein Buch über den Kommunismus nicht vorgesehen. Niemand dachte ernsthaft daran, eine atheistische Weltanschauung, eine »wissenschaftliche Ideologie« neben den Weltreligionen vorzustellen. Nun präsentiert Michail Ryklin die Heilslehre als »die originellste Religion des 20. Jahrhunderts«. Im Schwur des georgischen Seminaristen am Sarge seines Vorgängers sieht er das Credo der neuen Religion. Damit sind auch jene Rituale angedeutet, von denen in der Abhandlung über die Intellektuellen und die Oktoberrevolution – dem eigentlichen Thema des Buches – die Rede ist.
Der neue Glaube der Bolschewiki beförderte nicht die Entzauberung der Welt. Jedes Mittel war den Jüngern Lenins Recht, um zur Aufhebung der Entfremdung beizutragen. Klöster eigneten sich sehr gut als Haftorte, Fabrikhallen oder Speicher. Wenn nötig, kam die Abrißbirne zum Einsatz. Auch wenn Ryklin die Sprengung der Erlöserkathedrale in Moskau nicht persönlich erlebt hat, hatte er doch das Ergebnis dieser Aktion ständig vor Augen. Vom Philosophieinstitut der Akademie der Wissenschaften war das auf dem Fundament des geplanten Sowjetpalastes errichtete und im Winter beheizte Freibad gut zu sehen. Wo früher die Dunstglocke schwebte, glänzen heute die goldenen Kuppeln der wiederaufgebauten Kirche in der Sonne.
Der entartete Apparat erhob das Mausoleum auf dem Roten Platz in den Rang der zentralen Kultstätte. »Die Transzendenz verwandelte sich in die totale Immanenz.« Das moralische Prinzip wurde auf dem Altar der Revolution geopfert. »Die Sackgassen, in die sich der Leninismus noch verrennen sollte, waren bereits im aktiven, militanten Atheismus angelegt.« So lauten einige im Kapitel über Die Geburt der Religion aus dem Geiste des Atheismus enthaltene Thesen.
Daran schließt sich das Kapitel Im Mekka des Proletariats an. In ihm wird untersucht, wie Intellektuelle über ihre Wahlheimat Sowjetrußland dachten. Das übermächtige Resultat des am Beispiel von Bertrand Russel, Walter Benjamin, Arthur Koestler, André Gide, Lion Feuchtwanger und Bertolt Brecht vorgestellten Dreischritts An-, Ein- und Ausreise ist bei den meisten Ernüchterung.
Was ihnen an Sowjetrußland auffiel, war die stark ausgeprägte Haltung, jeden Gegner als Feind zu betrachten. Wer sich außerhalb welches Kollektivs auch immer stellte, hatte schon unwiederbringlich verloren. Der Verlust an Selbstidentität ist der Wesenskern und die Wurzel des neuen Glaubens. Dem Hinweis, daß die Bolschewiki ihre Religion im Unterschied zu ihren Vorgängern nicht auf die Tempel beschränkten, sondern alles, womit ihre Religion in Berührung kam, zu ihrem Kultusraum erklärten, sollte nachgegangen werden.
Im Ergebnis dessen würde dann auch deutlicher werden, ob die Bolschewiki im Vergleich zu den Ritualen der »alten Welt« wirklich etwas Neues und Originäres eingeführt haben, oder ob sie sich nur – um einen Einwand von Gerd Koenen aufzugreifen – wie clevere Trittbrettfahrer verhielten. Wenn die »historischen Gesetzmäßigkeiten«, die im Marxismus eine ganz wesentliche Rolle spielen, wirklich die Züge einer religiösen Heilserwartung angenommen hatten, könnte eine auf diesem Ansatz fußende Erläuterung der hier angelegten Bruch- und Kontinuitätslinien mehr als nur eine Erklärung für das Scheitern des Sowjetsystems leisten. Dieses System hatte durch die Heilserwartung nicht nur seine ursprüngliche Strahlkraft eingebüßt, sondern auch die Aura des Präzedenzlosen verloren. Das würde auch die Verhaltensweisen des »neuen Menschen« in Rußland erklären, der sehr schnell lernte, sich der Religion zu bedienen. Michail Ryklin liefert – ausgeprägter als in seinen Lettre-Beiträgen – einen aus der russischen Binnenperspektive verfaßten Diskussionsbeitrag. Hoffentlich wird er nicht mißverstanden.
Michail Ryklin: Kommunismus als Religion. Die Intellektuellen und die Oktoberrevolution. Aus dem Russischen von Dirk und Elena Uffelmann. Verlag der Weltreligionen im Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 2008, 192 Seiten
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