Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 26. Mai 2008, Heft 11

Die Lage

von Erhard Crome

»Wie ist denn die Lage, Genossen?« Wenn Walter Ulbricht diesen Satz sagte, war klar: Jetzt erklärt er urbi et orbi die Lage. So wie heute die CDU. »Wie ist denn die Lage, meine Damen und Herren?« Das wäre die rhetorische Frage in der Adenauerschen Variante, der nun in Gestalt von Schäuble, Kauder & Co., nebst ihrer Herrin, eine Antwort folgt. Die k.u.k.-Version einer Antwort auf solcherlei Frage war: »Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst.«
Deutschland aber ist bekanntlich viel ernster, zumal, wenn die Lage ernst ist. »Was als Krieg zu bezeichnen ist und was nicht, ist spätestens seit dem 11. September 2001 keine innerakademische Frage mehr, sondern eine Entscheidung von womöglich weltpolitischer Relevanz.« Das hatte der hinreichend bekannte Berliner Ordinarius für Bellizismus, Herfried Münkler, in seinem einschlägigen Werk über die »neuen Kriege« schon vor sechs Jahren festzustellen gewußt. Wer solch einen Satz schreibt, braucht natürlich keine theoretisch fundierte Definition. Es reicht der Hinweis: Seht, was »der Terrorismus« anrichtet – im Hirn geht der Bildschirm an: Das World Trade Center fällt zusammen, Staub über New York, heldenhafte Feuerwehrmänner, ein deutscher Kanzler mit »uneingeschränkter Solidarität«. Das alles suggeriert »der 11. September«. Bin Laden läuft zwar immer noch frei herum – was er nicht mehr täte, wenn der »Kampf gegen den Terrorismus« als ernsthafte Polizeiaufgabe betrieben worden wäre. Aber das sollte er ja nicht. Der »11. September« sollte ja benutzt werden, um andere Länder mit Krieg zu überziehen, zunächst Afghanistan und den Irak.
Und für so etwas braucht es, neben den einschlägigen Ministerien für die Kriegsführung und das Auswärtige, einen »Nationalen Sicherheitsrat«.. In den USA gibt es ihn. Er wurde im Juli 1947 unter Präsident Harry S. Truman geschaffen – das war die Zeit, da für den Kalten Krieg die Kulissen zusammengeschoben wurden. Ursprünglich stand dem Gremium der Vizepräsident vor, dann übernahm es der Präsident höchstselbst. Es gibt einen »Nationalen Sicherheitsberater«, was früher hochkarätige Leute wie Henry Kissinger waren, der den Präsidenten »berät«, und in dem Gremium sitzen als strukturmäßige Mitglieder auch der Außen-, der Verteidigungs- und der Finanzminister, der Generalstabschef der Streitkräfte und der Chef der CIA. Weitere hohe Würdenträger werden zu den Sitzungen geladen, wenn erwartet wird, daß sie zu bestimmten Themen etwas zu sagen haben werden.
Krieg also ist, nach Münkler, das, was wir dafür halten. In der CDU war das Werk offenbar gelesen worden, und es kam der Beschluß zustande, nunmehr einen Nationalen Sicherheitsrat in die Welt zu setzen. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion faßte ihn am 6. Mai 2008 und stellte ihn auf einer »Sicherheitskonferenz« am 7. Mai vor. Die Autoren haben vor dem Aufschreiben des Textes wahrscheinlich in einem dunklen Zimmer gesessen und sich Horrorfilme angesehen. Anschließend schrieben sie Sätze wie: »Dennoch bestehen viele Bedrohungen und Risiken für unsere Sicherheit«. Das »Dennoch« bezieht sich auf den Eingangssatz, in dem es heißt, »Deutschland … ist eines der sichersten Länder der Erde.« Der Leser soll ja abgeholt werden, wo er ist. Deshalb zunächst ein Satz, den er nachvollziehen kann. Damit er aber sich nicht in Sicherheit wiegt – im real existiert gewesenen Sozialismus hätte dies geheißen: in seiner »revolutionären Wachsamkeit« nachläßt – leitet das »Dennoch« das Gegenteil des vorherigen Satzes ein. Und dann kommt es dicke: »wie Terrorismus, Organisierte Kriminalität, Energie- und Rohstoffabhängigkeit, Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und Aufrüstung, regionale Konflikte, scheiternde Staaten, Migration, Pandemien und Seuchen; die Folgen des Klimawandels können diese Sicherheitsrisiken noch verstärken.«
Man beachte das »wie« am Eingang des Zitates. Das heißt, es sind nicht einmal alle Bedrohungen und Risiken! Computerunfälle, Steinschlag, Meteoritengefahr, Blitzschlag und Hochwasser an der Oder kommen noch hinzu! Dem Leser werden die Knie weich. Dabei hat er allerdings einen Kniff übersehen: »Bedrohungen und Risiken« werden nicht unterschieden. Womit Bin Laden, der Oberterrorist, die Mafia-Mörder, die jetzt auch auf deutschen Straßen herumschießen, Achmadinedschad, der gerade Atombomben basteln soll, wie man hört, und der Putin, der jetzt Medwedjew heißt und auf dem Erdgas sitzt, das er dem deutschen Menschen eines Tages vorenthalten könnte, alle unter eine Kategorie fallen: Gefahr im Verzuge für unser deutsches Vaterland.
Wie das immer so ist, im Eifer haben die Autoren (und -rinnen, natürlich) allerdings, vielleicht ungewollt, auch Zutreffendes gesagt. Was heißt denn »Aufrüstung« als Bedrohung, wenn man weiß, daß zwei Drittel der Rüstungsausgaben in der Welt von den NATO-Staaten getätigt werden? Dann müßte doch allgemeine und vollständige Abrüstung das sofortige Ziel deutscher Außenpolitik werden. Einen Satz weiter heißt es: »Durch die Globalisierung und die zunehmende Verflechtung zwischen den Staaten gewinnen diese Risiken an Dynamik.« Wie jetzt? Hatte man uns nicht seit bald zwanzig Jahren versprochen, durch Globalisierung würden wir alle reicher und schöner? Und jetzt ist das eine Gefahr?
Da muß sofortige Abhilfe geschaffen werden. Die CDU/CSU hat einen Vorschlag: »ein ›Nationaler Sicherheitsrat‹ als politisches Analyse-, Koordinierungs- und Entscheidungszentrum«. Es soll also nicht nur Herfried Münkler eingeladen werden, damit er seine Analysen ausbreitet, es soll auch nicht nur zwischen dem ebenfalls gewünschten »vernetzten Heimatschutz« und der Bundeswehr am Hindukusch koordiniert werden, sondern es sollen auch Befehle gegeben werden: »Entscheidungszentrum«. Um die einheitliche Leitung zu gewährleisten, soll natürlich die Bundeskanzlerin (gegebenenfalls ein Bundeskanzler) an der Spitze stehen.
Postwendend kamen Proteste, von der Opposition sowieso, vom Koalitionspartner SPD (»Mit uns nicht!«) und aus den Medien. Aus der Sicht der Politikwissenschaft wurde eingewandt, das sei in den USA möglich, weil die exekutive Gewalt beim Präsidenten liege, und es an ihm sei, welche Organe er sich schafft. Der Bundeskanzler in Deutschland hingegen habe zwar eine Richtlinienkompetenz, könne aber nicht direkt in die einzelnen Fachressorts hineinregieren, weil denen Bundesminister (die -rin ist hier mitgedacht) vorstünden und die Bundesregierung ein »Kollegialorgan« sei, das heißt als Kollektiv zum Beispiel im Gesetzgebungsprozeß tätig werde. In den USA täte dies der Präsident. Deshalb passe, so der Einwand, ein solcher Nationaler Sicherheitsrat demokratietheoretisch nicht in die vom Grundgesetz vorgegebene Systematik.
Dabei wird völlig übersehen, daß vorneweg die Bedrohungen und Risiken beschrieben sind. Außergewöhnliche Umstände erfordern außergewöhnliche Maßnahmen. Das wußte schon Walter Ulbricht, als er 1960 den »Nationalen Verteidigungsrat der DDR« schaffen ließ. Der war das »staatliche Führungsorgan für die einheitliche Leitung der Landesverteidigung« und wegen »der großen Bedeutung der Landesverteidigung« für die Gesellschaft geschaffen worden. Alle staatlichen Organe der DDR hatten »die Maßnahmen durchzuführen, die in den Rechtsakten (Anordnungen und Beschlüsse) des N. V. festgelegt sind« (zitiert nach Kleines Politisches Wörterbuch, 1985). So macht man das in Deutschland.
Vielleicht ist es mit dem Nationalen Verteidigungsrat nun so wie zuvor mit dem grünen Pfeil und der Poliklinik: Sie kommen, ohne daß man dem Wessi sagt, daß sie aus dem Osten kommen. Die Kanzlerin hat übrigens mitgeteilt, sie werde das Projekt trotz der Proteste weiterverfolgen. Wegen der Sicherheit. Und der Bedrohungen und Risiken.