von Uri Avnery, Tel Aviv
Ich hoffe, daß wir eines Tages eine »Wahrheits- und Versöhnungskommission« nach südafrikanischem Vorbild haben werden. Sie sollte aus israelischen, palästinensischen und internationalen Historikern zusammengesetzt sein, deren Aufgabe es wäre, herauszufinden, was sich 1948 in diesem Lande tatsächlich zugetragen hat.
In den sechzig Jahren, die seitdem vergangen sind, sind die Ereignisse dieses Krieges unter vielen Schichten israelischer, jüdischer und arabischer Propaganda begraben worden. Eine quasi archäologische Ausgrabung ist notwendig, um die untersten Schichten wieder zutage zu fördern. Selbst die noch lebenden Augenzeugen haben Probleme, zwischen dem, was sie tatsächlich sahen, und den Mythen zu unterscheiden.
Zunächst war es ein Krieg, der zwischen Juden und Arabern ausgefochten wurde. Er begann am Morgen des 30. November 1947; am Tag zuvor hatte die UN-Vollversammlung die Resolution zur Teilung Palästinas in einen jüdischen und arabischen Staat verkündet. Dieser Krieg dauerte bis zur Ausrufung des Staates Israel am 14. Mai 1948. An jenem Tag begann der zweite Krieg – der zwischen dem Staat Israel und den benachbarten Ländern, die ihre Armeen in die Schlacht warfen. Ich möchte ihn als einen »ethnischen Krieg« bezeichnen. In solch einem Krieg geht es nicht nur darum, einen militärischen Sieg zu erringen, sondern auch darum, so viel Land wie möglich – dies aber ohne die Bevölkerung der anderen Seite – in Besitz zu nehmen. Genau das geschah, als Jugoslawien auseinanderbrach und als dabei – keineswegs zufällig – der häßliche Ausdruck »ethnische Säuberung« entstand.
Wäre der Krieg vermeidbar gewesen? Damals hatte ich es bis zum letzten Augenblick gehofft. Doch es war längst zu spät. Die jüdische Seite war entschlossen, einen eigenen Staat zu gründen. Dies war eines der fundamentalen Ziele der zionistischen Bewegung. Nach dem Holocaust, der erst zweieinhalb Jahre zurück lag, waren die Anstrengungen verhundertfacht worden.
Und die arabische Seite war entschlossen, die Errichtung eines jüdischen Staates im Lande, das sie – zu Recht – als ein arabisches Land betrachtete, zu verhindern. Deshalb begannen die Araber den Krieg.
Als meine Kameraden und ich uns in den Krieg meldeten, waren wir vollkommen überzeugt, daß wir vor der Gefahr der Vernichtung standen. Der Satz »Es gibt keine Alternative« entsprach unserer tiefen Überzeugung. Dies erklärt, warum die jüdische Gemeinschaft vom ersten Augenblick an total mobilisiert war. Wir hatten eine geeinte Führung (selbst die Irgun und die Sterngruppe akzeptierten ihre Autorität) und eine geeinte militärische Kraft, die sehr schnell zu einer regulären Armee wurde.
Auf der arabischen Seite geschah nichts derartiges. Sie hatten keine vereinigte Führung, keine vereinigte arabisch-palästinensische Armee. Sie konnte ihre Kräfte nicht an den entscheidenden Stellen konzentrieren. Das erfuhren wir aber erst nach dem Krieg.
Dachten wir, wir wären die stärkere Seite? Überhaupt nicht. Damals bildeten die Juden nur ein Drittel der Bevölkerung des Landes. Hunderte von arabischen Dörfern im ganzen Land beherrschten die Hauptverbindungsstraßen, die für unser Überleben wichtig waren. Bei unseren Bemühungen, diese Verbindungen – besonders die Straße nach Jerusalem – offenzuhalten, hatten wir große Verluste. Langsam veränderte sich das Kräfteverhältnis. Unsere Armee organisierte sich besser und sammelte Erfahrungen, während die arabische Seite noch von der »faz’ah« abhing, der Mobilisierung von Dorfbewohnern, die nur mit ihren eigenen alten Waffen ausgerüstet waren. Ab April 1948 erhielten wir große Mengen leichter Waffen aus der Tschechoslowakei, die uns auf Stalins Befehl gesandt wurden. Mitte Mai, als wir mit einer Intervention arabischer Armeen rechneten, waren wir schon im Besitz eines zusammenhängenden Gebietes. Im Laufe der Jahre haben Gegner Israels einen Verschwörungsmythos um den Plan Dalet geschaffen und ihn zur Ursache für die ethnische Säuberung verklärt. In Wirklichkeit war er ein militärischer Plan, um für die entscheidende Konfrontation mit den arabischen Armeen ein zusammenhängendes Gebiet als Basis zu haben.
Nach der UN-Resolution sollte der »jüdische Staat« mehr als die Hälfte Palästinas, so wie es 1947 unter britischem Mandat bestand, umfassen. Auf diesem Gebiet war mehr als vierzig Prozent der Bevölkerung arabisch. Die arabischen Politiker vertraten den Standpunkt, es sei unmöglich, dort einen jüdischen Staat entstehen zu lassen, und verlangten die Rücknahme der Teilungsresolution. Die jüdische Seite, die an der Teilungsresolution festhielt, wollte hingegen beweisen, daß es möglich sei. Es gab vereinzelt Bemühungen – zum Beispiel in Haifa –, die Araber davon zu überzeugen, ihre Häuser nicht zu verlassen. Aber die Realität des Krieges verursachte den Massenexodus. Doch anders, als oft behauptet, flohen die Araber nicht aus dem Land. Im allgemeinen geschah es so: Im Laufe des Kampfes kam ein Dorf unter schweren Beschuß. Seine Einwohner – Männer, Frauen und Kinder – flohen natürlich ins nächste Dorf. Wenn wir auch dieses Dorf beschossen, flohen sie ins übernächste und so weiter, bis der Waffenstillstand in Kraft trat und es plötzlich eine Grenze – die Grüne Linie – zwischen ihnen und ihren Häusern gab. Selbst die Einwohner von Jaffa verließen nicht das Land – schließlich war der Gazastreifen, in den sie flohen, ein Teil Palästinas.
Erst in der zweiten Hälfte des Krieges, nachdem das Vordringen der arabischen Armeen gestoppt worden war, wurde eine bewußte Politik der Vertreibung der Araber ein Kriegsziel. Doch das war keine einseitige Angelegenheit. In den Gebieten, die von uns erobert wurden, blieben nicht viele Araber, und in den Gebieten, die von den Arabern erobert wurden, blieben keine Juden. Die jüdischen Bewohner wurden getötet oder vertrieben. Der Unterschied war ein quantitativer, weil die jüdische Seite große Teile des Landes eroberte. Der arabischen Seite gelang es nur, kleine Gebiete zu erobern.
Eine wirkliche Entscheidung fiel jedoch erst nach dem Krieg: mit dem Verbot der Rückkehr für 750000 arabische Flüchtlinge. Wir werden solange keinen Frieden erlangen, wie wir einen palästinensischen Staat neben unserem Staat verhindern. Daß dies noch nicht geschehen ist, ist einer der Gründe dafür, daß der Krieg von 1948 bis heute andauert.
Aus dem Englischen Ellen Rohlfs/Christoph Glanz, redaktionell gekürzt
Schlagwörter: Israel, Palästina, Uri Avnery