von Jörn Schütrumpf
Wissenschaftler, Forscher, Dozent, Pädagoge, Gutachter, Vermögensberater, Lehrbeauftragter, Jurist, Ethnologe, Biologe, Physiker, Meteorologe, Medienwissenschaftler, Journalist, Redakteur, Privatdetektiv, Ermittler, Personenschützer, Versicherungsvertreter, Betriebswirt, Havariekommissar, Pilot, Flugkapitän, Kapitän, Matrose, Designer – alle diese Bezeichnungen haben eines gemeinsam: Sie gaukeln seriöse Berufe vor, samt hochwertigem Abschluß. In Wahrheit aber darf sich Wissenschaftler, Forscher, Dozent et cetera ein jeder nennen.
Niemand kann den Vermögensberater belangen, wenn er die Vermögenden um ihr Vermögen berät, geschweige denn wenn er die Unvermögenden dauerhaft in das Elend der Überschuldung schwatzt. Nicht anders wenn der Pädagoge eine tiefe Spur, gefüllt mit Gefühlskrüppeln, hinter sich läßt. Die Verantwortungslosen bleiben die Eltern, hatte sie doch niemand gezwungen, ihre Kinder einem Scharlatan auszuliefern. Und welchen Ekel vorm Weiterfernsehen Journalisten zu erzeugen vermögen, ist nur dem entgangen, der rechtzeitig mit einem Attest vor dem Empfang elektronischer Bilder bewahrt wurde.
Nicht anders als unter Vermögensberatern, Pädagogen, Journalisten & Co geht es in der Politik zu: Liberal, demokratisch, konservativ, national, christlich, sozialistisch, kommunistisch, rechts, links oder grün darf sich jeder nennen. Ob der Liberale liberale, der Demokrat demokratische, der Konservative konservative, der Nationale nationale, der Christ christliche, der Sozialist sozialistische, der Kommunist kommunistische, der Rechte rechte, der Linke linke und Grüne grüne Politik macht, spielt keine Rolle. »Liberaler Politiker« ist ebenso wie »Linker Politiker« keine geschützte Berufsbezeichnung. So darf sich jeder Dahergelaufene nennen, und mitunter nennen sich Dahergelaufene auch so – die Dahergelaufeninnen selbstverständlich auch; hier herrscht gleicher Lohn für gleiche Lüge.
Ob in der Wirtschaft, ob in der Politik – die Anmaßung kommt anmaßend daher, manchmal veredelt mit einer gekauften Promotion à la Magna cum pecunia. Nun ist es müßig, sich über diese Zustände zu echauffieren: Eine Gesellschaft, die sich mit einer kapitalistischen Produktionsweise reproduzieren muß, darf – bei Strafe des Untergangs ihrer Produktionsweise – nicht auf Gebrauchswerte, sondern nur auf »Werte« gestimmt sein. Wobei nicht die wirklichen, also die ethischen Werte, sondern die knallharten Werte gemeint sind. Also die, die an den Börsen innerhalb von Sekunden ins Nichts verschwinden können; ganz wertfrei. Wie schon bei Goethen: Wert ist nur das, was auch zugrunde geht. (Goethe hatte es freilich etwas anders formuliert – und also nicht verstanden.)
Auch wenn es uns nicht egal sein sollte, ob die Liberalen wirklich liberale – und nicht etwa neo-»liberale« – Politik machen, interessiert in diesem Blatt natürlich mehr, was linke Politiker treiben. Eine geschützte Berufsbezeichnung wäre spätestens seit dem 4. August 1914 ernsthaft wünschenswert gewesen. Wir ständen heute vielleicht anders da. Was im Namen der Linken in den vergangenen 93 Jahren verbrochen wurde, muß bei Außenstehenden den Eindruck erzeugen, daß es sich bei denen, die immer noch beabsichtigen, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist« (Marx), nur um einen Sado-Maso-Haufen handeln kann.
Ursprünglich war es übrigens ganz übersichtlich: In der Großen Revolution der Franzosen von 1789 hatte sich das Parlament, das ausschließlich von Revolutionären beherrscht wurde, in ein rechtes und in ein linkes Lager gespaltet. Die Rechte war mit den erkämpften Bürger- und Freiheitsrechten, vor allem mit deren Kern, dem Schutz des Eigentums, zufrieden gewesen; die Linke hingegen wollte den Bürger- und Freiheitsrechten die sozialen Rechte mit deren Kern, der sozialen Gleichheit, hinzufügen. Da die in ihren Ansprüchen befriedigte Rechte bald aus dem revolutionären Lager schied, blieb die Linke auf der Revolution sitzen. Von Jacques Roux über Karl Marx bis Rosa Luxemburg war die Linke die Partei der Freiheit und Gleichheit. Erst die SPD opferte 1914 die Freiheitsrechte dem Burgfrieden in der Hoffnung auf etwas mehr soziale Gleichheit nach dem Kriege. Und Lenin gab 1917 die Freiheitsrechte seinem Machterhalt in der Hoffnung hin auf soziale Gleichheit nach der Liquidierung aller »Feinde«. Der Machterhalt blieb übrig, was Stalin am besten verstand, Gorbatschow hingegen überhaupt nicht.
Nun ist in der Politik die Änderung von Optionen etwas Alltägliches; die Chuzpe besteht allerdings darin, daß unter der alten Flagge weitergesegelt wird. Niemand hätte etwas dagegen gehabt, wenn die SPD 1914 den Freiheitsanspruch aus ihrem Programm gestrichen und künftig nur noch in soziale Gleichheit gemacht hätte – nicht zuviel und nicht gleich, aber immerhin –; außer vielleicht ihren Wählern. In den KZ nach 1933 und in der Emigration ist einigen SPD-Politikern, die die gesamte Weimarer Republik hindurch ihre Anhänger immer wieder belogen und betrogen hatten, der Sinn von Freiheitsrechten in Erinnerung gebracht worden. Diese Welle lief mit einem Koofmich aus, der nun in russisches Gas macht. Hartz IV ist das Ende von Freiheit und Gleichheit – vom demolierten Bankgeheimnis bis zum kühl kalkulierten Ausschluß von Kultur und Bildung. Wo Freiheit und Gleichheit für einen Teil der Gesellschaft außer Kraft gesetzt sind, verändert sich die gesamte Gesellschaft zurück in Richtung ständischer Feudalstrukturen: Jedem das Seine.
Die ursprüngliche Linke, die mit Jacques Roux, Karl Marx und Rosa Luxemburg die Bürger- und Freiheitsrechte um die sozialen Rechte erweitern wollte, sieht sich auch noch heute durch Schröder- und Lenin-Jünger desavouiert. Und das wird so bleiben, wenn sich die organisierte Linke nicht von freiheitsverachtenden Trittbrettfahrern beider Richtungen emanzipiert. Was zu hoffen, aber nicht zu erwarten ist.
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