von Wolfgang Sabath
Die Grenze, achgottchen, einige Meter Slalom um ausgeräumte Abfertigungsgebäude, das war’s dann schon. Kein Bauchkribbeln mehr, keine innere Bedrängnis, nicht mehr wie früher dieser leichte Anflug von Unsicherheit, was »die da in den Kontrollhäuschen« wohl wieder monieren könnten. Die sind arbeitslos inzwischen oder schützen Europa am Ostwall vor weißrussischen und ukrainischen Habenichsen; Kriminelle haben Papiere.
Rechter Hand hinter Wildwuchs mehr zu ahnen die Festung Küstrin, Sie wissen: »die Katte-Tragödie«; Katte, Hans Hermann von, Jugendfreund Friedrich des Großen, totgeschossen wegen Fluchtversuchmitwisserschaft. Sechster November 1730. Jawollja, es schickt sich in Deutschland wieder, darüber Bescheid zu wissen. Wurde auch Zeit.
Einige hundert Meter weiter verlangsamt ein Kreisel den Verkehrfluß, und dann bist du auch schon außerhalb des Städtchens.
Die Landstraße ist schmal. Linkerhand kilometerweit überflutetes Warthebruch mit vielen Störchen, etlichen Enten und einem Kormoran. Die Gegend rechts ist trockener, auf Feldern noch dicke Strohballen vom vorigen Jahr. Landschaft paßt immer. Das Wetter auch: Es ist ein trüber Aprilvormittag.
Fünfzehn Kilometer bis Sonnenburg. Sonnenburg heißt seit über sechzig Jahren Słońsk. Das hat die bekannten Gründe. Die Neumark? Perdu, perdu.
Słońsk hat, wir haben uns ja belesen, um die dreitausend Einwohner. Vielleicht einige weniger, vielleicht einige mehr. Nach ersten Häusern am Ortseingang wieder ein Kreisel; neugepflasterte Bürgersteige und eben derartige Verkehrsleiteinrichtungen scheinen, unsereiner kommt herum, zumindest osteuropaweit zu den EU-Insignien zu gehören. Wir sind unsicher, ob wir die richtige Ausfahrt gewählt haben, halten an. G., mein personengebundener Polonist und Historiker, geht fragen. »Ach«, sagt der Mann, der in seinem Vorstadtgrundstück herumgärtnert, »Sie müssen umkehren.«
Wir hatten den Kreisel eine Ausfahrt zu früh verlassen. Es wird vorsichtig gewendet, denn am Rand der gegenüberliegenden Straßenseite ist ein Graben. Es sieht nach neuen Leitungen aus. Zurück in den Kreisel, andere Ausfahrt, dann gute hundert Meter links: ein grauverputzter Bau in einer Art Pavillonstil: das Muzeum Martyrologie.
Davor ein mit Steinplatten ausgelegter nicht sehr großer Platz. Vor dem Denkmal, einer auffälligen und interessanten Metallkonstruktion an der einen Seite des Vierecks, liegen zwei kleine Gebinde. Daran Schleifen in polnischen Nationalfarben. Wer sie niedergelegt hat, ist nicht mehr ersichtlich, der Regen hat wohl die Schriftzüge abgewaschen.
Das Museum des KZ Sonnenburg ist geschlossen, die Fenster sind verrammelt. Ist jemand sehr interessiert, muß er sich anmelden. Hoch über der Eingangstür ein schwer lesbares Holzschild: Der Kustos amtiere in der Soundsostraße und habe folgende Soundsotelefonnummer. Sitz und Nummer der Stadtverwaltung, vermutlich. An der Außenwand des Museums etliche Gedenktafeln, Ruhm und Ehre den Helden des antifaschistischen Widerstandskampfes – Komitee der antifaschistischen Widerstandskämpfer der DDR, zum Beispiel. Dem radikalen Demokraten und Antifaschisten zum Gedenken – den Lebenden zur Mahnung – C. v. Ossietzky- Gymnasium Berlin-Kreuzberg 1998, zum Beispiel.
Aus Erich Mühsams Taschenkalender:
»Donnerstag, den 6. April: Abtransport über Schlesischen Bahnhof nach Sonnenburg, Nacht mit Ossietzky und Litten.
Sonnabend, den 8. April: Umzug in Einzelhaft (Keller); Erdarbeit (mit Ossietzky).
Sonntag, den 9. April: Verletzung des Gebisses, des Ohres usw.
Mittwoch, den 19. April: Schwere Herzattacken durch Überanstrengungen, frühmorgens.
Donnerstag, den 13. April: Anstrengungen wie gestern, Ohrenausspritzung.
Sonnabend, den 22. April: Beim Arzt (Zurechtweisung wegen unnötiger Konsultation).
Montag, den 24. April: Überfall in der Zelle, Schläge.
16./17. Mai: Überfall in der Zelle.«
Das war der Anfang.
Mühsam war also vom Schlesischen Bahnhof in Berlin aus nach Sonnenburg transportiert worden; bei Recherchen zu Słońsk stieß ich auf einen oberschlesischen Ort ähnlichen Namens (Śląnsk) und fand dabei folgende Perle zeitgenössischer Erinnerungskultur aus Schlesien-Ober:
An die Wojewodschaft
Herrn Willibald Winkler
Katowice, Jagielonska Straße 25
ANTRAG AUF DEN BAU EINES DENKMALS
ZUR ERINNERUNG AN DIE OPFER
Wir, die letzten zurückgebliebenen Verwandten, Bekannten und Kinder von den verstorbenen Gefangenen des Lagers Auschwitz wenden uns an den Herrn Wojewoden mit einer großen Bitte, den Bau eines Denkmals auf dem Gelände des früheren Arbeitslager in Auschwitz-Birkenau zur Erinnerung an die Opfer zu erlauben.
Wir wollen damit dem erlittenen Unrecht der deutschen Bevölkerung gedenken. Viele unschuldige Opfer, die aus Oberschlesien und dem Beskidenland stammten, wurden nach dem 2. Weltkrieg in Jahren 1945 – 1947 als Gefangene in diesem polnischen Arbeitslager verfolgt und ermordet. Viele haben dort ihr Leben verloren oder kamen als Behinderte zurück.
Der Bau eines solchen Denkmals wäre mit Sicherheit eine großzügige Geste der Dankbarkeit und der Versöhnung. Die Erinnerung an viele Tausende unschuldiger Opfer entspricht dem Geiste der beiderseitigen Vereinbarung zwischen Polen und Deutschland aus dem Jahre 1991 und dient der guten Nachbarschaft und dem Frieden.
Wir bitten herzlich um Ihre Zustimmung für unseren Antrag.
Josef Jancza, Bielsko-Biala, den 25.3.2001 (aus: Echo Slonska)
Vom Nachbargrundstück, es ist kaum einsehbar, weht der Geruch frischen Holzes herüber, ein Betrieb, Tischlerei, Sägewerk …, was weiß ich. Wir steigen in den Wagen und fahren zum Ehrenfriedhof. Der befindet sich an anderer Stelle des Ortsrandes, auf der Herfahrt hatten wir das Hinweisschild gesehen. Vom 30. Januar zum 31. Januar 1945 wurden im KZ Sonnenburg in einer Nacht- und Nebelaktion 819 Häftlinge umgebracht: Polen, Russen, Tschechen, Jugoslawen, Belgier, Dänen, Holländer, Deutsche, Luxemburger, Franzosen, Norweger, Spanier. Die Namen sind gerettet, der Rest heißt Massengrab, Ehrenfriedhof.
»Fällt dir was zum 30. Januar ein?«, fragt G. »Ja«, sage ich als mich auf der Höhe der Zeit bewegender Fernsehkonsument, »da ist die Gustloff untergegangen.« G. aber hatte den sogenannten Tag der Machtergreifung im Sinne. Egal, hat doch eh alles miteinander zu tun, irgendwie, aber mit Sicherheit.
Anläßlich des 70. Todestages von Carl von Ossietzky – gestorben am 4. Mai 1938 an den Folgen seiner KZ-Haft in Sonnenburg – wird es am 3. Mai in Słońsk eine Feierstunde geben. Und neue Blumen, und Reden.
Schlagwörter: Carl von Ossietzky, Erich Mühsam, KZ Sonnenburg, Słońsk, Sonnenburg, Wolfgang Sabath