Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 31. März 2008, Heft 7

Sozialdemokraten

von Erhard Crome

Die Medien hacken seit Wochen auf der Sozialdemokratie in Deutschland herum. So als hätte sie die sofortige Durchführung der proletarischen Weltrevolution auf die Tagesordnung gesetzt. Der Hauptangriff richtet sich gegen den Parteivorsitzenden. Kurt Beck, sicher nicht der charismatischste Parteiführer, aber ein bemühter politischer Handwerker, hatte es nach dem politischen Patt in Hessen nach der Landtagswahl vom 27. Januar gewagt, öffentlich darüber nachzudenken, ob man nicht auch im Westen mit der Linken …, und daß die Landesverbände … usw. Damit schien ein Tabu gebrochen. »Die Kommunisten« nicht nur im Landtag, auch in der Nähe der Landesregierung, morgen vielleicht auch mitregierend! Undenkbar! Oder eben doch denkbar? Das ist die Frage.

Zum wichtigsten Vehikel der Kampagne wurde das Wort Wortbruch. Es wurde der hessischen SPD-Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti umgehängt, und dann Beck, weil er das »stützte«. Sie hätte »versprochen«, nie mit den Linken, und dann doch … Gegen den Strom hat der Theatermann Ivan Nagel darauf hingewiesen, daß es von seiten Ypsilantis zwei Versprechungen gegeben hat (Frankfurter Rundschau, 11. März 2008): erstens »Koch muß weg«; zweitens sich nicht mit den Stimmen der Linken zur Ministerpräsidentin wählen zu lassen. Die hessischen Wähler – nicht Koch, nicht Beck, nicht Ypsilanti – haben nun verhindert, daß sie beide Versprechungen gleichzeitig einlösen kann. Wenn nun von »Wählerbetrug« die Rede ist – die 46,2 Prozent, die CDU und FDP gewählt haben, kann sie nicht betrogen haben, weil, die haben ja Ekel-Koch trotz oder wegen seiner neuerlichen ausländerfeindlichen Kampagne gewählt.

Bleiben die 49,3 Prozent der Wähler, die SPD, Grüne und Linke gewählt haben. Die haben alle »Koch muß weg« gewählt. Werden sie nun darum betrogen, weil Ypsilanti zugleich gesagt hatte, dies nicht mit den Linken tun zu wollen, oder wiegt das zweite Versprechen nicht so schwer wie das erste? Das ist hier die Frage. Im Grunde müßten die Wähler der SPD, der Grünen und der Linken gefragt werden, ob sie lieber weiter Koch kommissarisch oder Ypsilanti mit Minderheitsregierung regieren lassen wollen.

Im Hintergrund steht die noch schwerwiegendere Frage: Warum diese Kampagne aus diesem Anlaß? Für Koch ist es die letzte Chance, die Wahlen, bei denen die CDU zwölf Prozent der Stimmen verloren hatte, gegen den Wählerwillen doch noch zu »gewinnen«. Das reicht als Erklärung aber nicht. Ivan Nagel spricht von einer »Tsunami-Welle von demagogischer Raserei, mit der die meistgelesenen Zeitungen des Landes seit den Hessen- und Hamburg-Wahlen täglich über Volk und Politik herfallen«. Und weiter: »Eine solche Seuche des Hasses wie in den letzten Wochen gegen Beck und ›Frau Lügilanti‹ wurde hierzulande seit den Dutschke-Jahren nicht mehr entfesselt.«

Das ist offenbar erklärungsbedürftig. Und man muß etwas weiter in die Geschichte zurückgehen. Am Ende der 1990er Jahre schien es so, als würde ein neues sozialdemokratisches Zeitalter anbrechen. In den meisten EU-Staaten regierten sozialdemokratisch oder »sozialistisch« geführte Regierungen. Bundeskanzler Schröder und der britische Premier Blair ließen Papiere in ihrem Namen veröffentlichen, die »Reformhorizonte« umreißen sollten. Tatsächlich jedoch wurden »Reformen« in Deutschland zu einem Schimpfwort gemacht: Bei Willi Brandt waren sie synonym für Bestrebungen, die Lage der Arbeitenden, Rentner und sozial Schwachen zu verbessern, unter Gerhard Schröder dafür, deren Lebensbedingungen zu verschlechtern. Das geschah unter dem Vorwand, angesichts der Bedingungen der »Globalisierung« sei anderes nicht möglich – und die gemachte Politik »das kleinere Übel«. Tatsächlich jedoch hatte sich die deutsche Sozialdemokratie unter Schröder das neoliberale Programm der Privatisierung und »Deregulierung« zu eigen gemacht und sich befleißigt, es umzusetzen.

Jedes Zeitalter hat gleichsam einen leitenden Kanon von Werten, die das Handeln der Menschen beeinflussen. Früher kamen die aus der Religion, dann – mit der »Aufklärung« – aus der Philosophie, seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts gesellschaftskritisch aus der Soziologie beziehungsweise bei den Linken aus dem Denken sozialistischer Alternativen. Mit dem Ende des Realsozialismus scheint dieses blamiert. Der Neoliberalismus hat seit den 1990er Jahren gleichsam eine »Verbetriebswirtschaftlichung« des Denkens mit sich gebracht. Alles, nicht nur die Produktion, der Rentenfonds und der öffentliche Nahverkehr, auch das Gesundheitswesen, Liebe und Ehe sowie die Altenpflege sollen sich vor dem Richterstuhl der Rendite rechtfertigen. Und was »sich nicht rechnet«, gehört abgeschafft.

Haben Staat und Politik auch in der Bundesrepublik Deutschland früher volkswirtschaftlich gedacht, auch im Sinne der Demokratie als politisches Gemeinwesen, so hat Schröder die Staatsphilosophie betriebswirtschaftlich gewendet: Nicht mehr das Wohl des Staates und der Bürger, sondern die Rendite der großen Firmen sind Kriterium politischen Handelns. So war es denn folgerichtig, über die Steuerpolitik die Besteuerung der Großkonzerne schrittweise abzuschaffen und über Hartz IV die Arbeitskraft in Deutschland billiger zu machen. Dagegen richtet sich Widerstand. Die Entstehung und die Wahlergebnisse der Linkspartei sind der politische Ausdruck dessen. Die geistige Hegemonie des Neoliberalismus bröckelt.

Beck nun hat in dieser Lage diese Schröder-SPD geerbt und den Auftrag erhalten, sie zu verwalten. Sein Konzept war zunächst, die Linke im Osten weiter hinzunehmen, ihre gesellschaftliche Akzeptanz im Westen aber zu verhindern. In den Stadtstaaten – Bremen und Hamburg – ging man davon aus, daß die Linke wohl in die Landesparlamente kommen werde. In den sogenannten Flächenländern wollte die SPD dies auch künftig verhindern. Bei den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz 2006 war das Becks SPD ja auch gelungen wie ebenfalls in Baden-Württemberg. Die Aussagen von Beck und demzufolge auch von Ypsilanti bei der Hessen-Wahl: »Nicht mit den Linken«, zielten darauf, dies auch in Hessen zu erreichen.

Die politische Lage in Deutschland hat sich in den vergangenen zwei Jahren jedoch verändert. Die Linke ist nun in den Landesparlamenten in Hessen und Niedersachsen. Weitere werden folgen. Ein Fünf-Parteien-System ist entstanden, in dem Zweier-Koalitionen – außer der sogenannten Großen zwischen CDU und SPD – eher unwahrscheinlich sind. Der babylonischen Gefangenschaft, entweder »Große Koalition« oder Opposition, kann die SPD aber nur entrinnen, wenn sie eine Brücke zur Linken schlägt. Das wissen die Nutznießer der neoliberalen Bereicherung, denen dieses Land gehört, das weiß die CDU, die keine strukturelle Mehrheit im Lande mehr hat, und das wissen die Medien, die ebenfalls denen gehören. Deshalb die Hetzkampagne dieser Tage, die sich auf Gehirnwäsche der Wähler ebenso richtet wie gegen die SPD. Es verschärft sich nicht nur der Ton. Ob aber damit die Bewegungen im Lande aufgehalten werden können, wird sich erst noch zeigen müssen.