von Uwe Stolzmann
Oktober 2007, Hugo Chávez sitzt am Bett des siechen Castro, Fidel in einem Trainingsanzug mit den Farben der Insel, der Venezolaner im blutroten Hemd seiner Bewegung. »Bruder!«, flüstert der greise Gastgeber; »Vater, Lehrer«, entgegnet Chávez, »du wirst nie sterben«, bevor sie trotzig deklamieren: »Patria, socialismo o muerte! Venceremos!«
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Lateinamerika, so hört man, rücke nach links. Seit 1998 wird die Region von einer roten Welle förmlich überrollt. Umsturz an den Urnen. Präsidenten wie Volkstribun Hugo Chávez, der Gewerkschafter »Lula« in Brasilien, Kokabauer Evo Morales aus Bolivien, die Eheleute Kirchner in Argentinien, die Chilenin Michelle Bachelet, Rafael Correa in Ecuador, der Uruguayer Tabaré Vázquez, Alan García aus Peru, Alt-Sandinist Daniel Ortega – sie alle nennen sich »Linke« oder werden so genannt.
Wofür stand und steht in Lateinamerika das Wort »links«? Für Kampf und Widerstand, natürlich. Widerstand gegen die ewige Teilung der Gesellschaft: oben und unten, weiß und indianisch, sehr reich und sehr arm. Widerstand gegen die Oligarchie der Grundbesitzer, ihren Staatsapparat und ihre Milizen. Kampf für Gleichheit, Gerechtigkeit, kurz: für eine egalitäre Gemeinschaft.
Fremde verstört dieser Kontinent mit seiner sprichwörtlichen Kultur der Gewalt.. »Kultur der Gewalt«? Oft nur eine feinsinnige Umschreibung für Terror und Willkür. Man sollte an einen Protagonisten dieser Kultur erinnern, an jenen Mann, der das heutige Bild des Subkontinents prägte. Ernesto Guevara, El Che. Google zeigt 6,1 Millionen Treffer in 0,17 Sekunden. Bei seiner Bewertung sind sich Altgläubige und Konvertiten, Führer und Fußvolk der linken Sache auf beiden Seiten des Atlantiks bis heute einig. Ein Muster sei der Comandante, so liest man, Vorbild, Beispiel – für revolutionären Elan und Kampfgeist, für Mitgefühl und Menschlichkeit. Da haben seine Anhänger wohl nicht richtig hingeschaut. Biographen beschreiben Che als skrupellos, launisch, autoritär, eine »chaotische Persönlichkeit«. Das Individuum – auch der »neue Mensch« des Argentiniers – war für Che nur Spielfigur. Guevara liebte Begriffe wie Haß, Tod, Gewalt, vor allem das Wort Krieg. In seiner Botschaft an die Völker der Welt (1967) gibt es 27 Mal »Krieg«. »Wie glänzend und nah wäre die Zukunft, wenn zwei, drei, viele Vietnams auf der Oberfläche des Erdballs entstünden … «
Die 68er skandierten den Satz – allerdings ohne den zweiten Teil der Sentenz: »… mit ihrer Todesrate und ihren ungeheuren Tragödien«. Che, ein Scharfrichter der Revolution. In der Sierra Maestra exekutierte er wankelmütige Gefährten.. (Tagebuch, Januar 1957: »Ich habe das Problem mit einem Pistolenschuß geklärt, Kaliber 32, in seine rechte Hirnhälfte.«) Als Kommandant der Festung La Cabaña an der Bucht von Havanna war er 1959 verantwortlich für einige hundert Todesurteile ohne fairen Prozeß. 1962, während der Kubakrise, hätte Che furchtbar gern Chruschtschows Atomraketen abgefeuert, auf daß die Asche seiner Gastgeber, der Kubaner, »als Fundament für neue Gesellschaften dient«.
Da er keine Kernwaffen besaß, pries Che den »kleinen Krieg« als Auslöser der globalen Umwälzung, »Guerilla«, Guevara hat den Begriff populär gemacht. Ab den sechziger Jahren entstanden – oft von Kuba oder der UdSSR teilfinanziert – in vielen Teilen Lateinamerikas Rebellenbewegungen. Und mit nur leichter Verzögerung, Zufall oder nicht, wuchs die Zahl der Diktaturen. Fast immer hatte Washington die Finger im Spiel. Der Kontinent verwandelte sich in ein Gräberfeld.
In Nicaragua bekamen die Aufständischen ab 1979 die Chance, ihre Gesellschaftsvision zu erproben. Die Vision zerbrach am Contra-Krieg (30000 Tote), doch eher noch an Hybris und Mißmanagement der Comandantes. Das »freie Nicaragua« zeigte totalitäre Züge: Massenfestnahmen, Inhaftierung von Kritikern, Prozesse vor Sondergerichten, Zwangsumsiedlungen (von Indios); im Jahr des Sieges gab es etwa hundert Hinrichtungen. Am Ende, bei der Abwahl der Sandinisten 1990, erwiesen sich Heroen der Bewegung als kleine Gauner: In einem staatlich gelenkten Raubzug sicherten sie sich Häuser, Firmen, Landgüter, Autos.
Und heute? Ist der Erdteil mit Chávez tatsächlich auf dem Weg in einen »Sozialismus des 21. Jahrhunderts«? Von einer einheitlichen politischen Tönung des Subkontinents kann jedenfalls nicht die Rede sein. Dennoch scheint der Erdteil im Umbruch. Das Schlagwort heißt Emanzipation, Emanzipation im Innern und nach außen.
Es gibt drei, vier ermutigende Initiativen: Die Bank des Südens (2007 entstanden, Sitz in Caracas) will als kontinentaler Kreditgeber die Dominanz von Weltbank und Währungsfonds brechen; eine regionale Wirtschaftsgemeinschaft, gegründet 2005, soll die von Washington geforderte Freihandelszone verhindern – das spanische Kürzel heißt Alba, Morgenröte.
Nationalisierung – diese vorgeblich mutige Neuerung ist jedoch so neu nicht, schon seit den dreißiger Jahren erlebten viele Länder des Kontinents radikale Phasen von Staatskapitalismus; Bolivien und Ecuador sollen nach dem Willen ihrer Lenker per Verfassungsreform »neu gegründet« werden. Falls das Volk an den Urnen zustimmt, gibt es fortan Volkseigentum an Bodenschätzen, mehr Rechte für die indianische Mehrheit, weniger Großgrundbesitz. Die herausragende Gestalt der neuen Linken ist zweifellos Hugo Chávez. Doch seine Ausfälle gegen das »perverse Imperium« sind Maskerade – der Handel mit den USA boomt. An Chávez scheiden sich die Geister, je nach Blickwinkel gilt er als Erlöser oder Dämon. Er legt spektakuläre Sozialprogramme auf – andererseits gibt es Personenkult, Straßenschlachten und Schüsse auf Studenten. Wohlverhalten wird notfalls erzwungen, Zuwendung verlangt Unterwerfung. Er will eine Einheitspartei, das Einparteiensystem, und herrschen möchte er bis 2050. Der Putschist von 1992 war auf dem Weg zum Despoten. Das Referendum vom Dezember 2007 hat ihn vorerst gestoppt.
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Vier Stunden sitzen Castro und Chávez an jenem Oktobertag beieinander. Sie reden über El Che. »Die Ideen seiner Revolution sind in ganz Lateinamerika ausgesät«, insistiert Fidel, während der Gast, dem Greis zur Freude, zu singen beginnt, eine Hymne auf Guevara, »dein Blut fließt jetzt in unseren Adern«. Sie schwelgen in Erinnerungen, einer zitiert den Che-Satz über »zwei, drei, viele Vietnams«. Die Welt, sagt darauf der Kubaner, sei in diesem Moment voller Vietnams. Aber nun müsse er ein paar Tabletten nehmen, einige von diesen Dingern. Abschied, Grüße, »wir siegen!«, ruft Castro. »Wir siegen, Bruder, Vater«, erwidert Hugo Chávez.
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